Von Jürgen Klute

Das “Woodstock of Postgrowth” nannte Louison Cahen-Fourot, Assistant Professor an der dänischen Roskilde Universität und einer der Redner die Beyond Growth 2023 Conference, die vom 15. bis 17. Mai in Brüssel im Europäischen Parlament (EP) stattfand. Mit rund 2.500 Teilnehmenden und etwa 4.000 Menschen, die der Konferenz via Internet folgten, zählte diese Konferenz zwar deutlich weniger Teilnehmende als das legendäre Woodstock-Open-Air-Musikfestival im August 1969, aber sie war die bisher größte Konferenz, die Mitglieder des Europäischen Parlaments organisiert und durchgeführt haben. Und auch die Beyond Growth Conference 2023 erstreckte sich – ebenso wie das Woodstock-Festival – über 3 Tage.

Anlass für diese Konferenz war die 50-jährige Wiederkehr der Veröffentlichung des ersten Berichts des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ im Jahre 1972, in der die heute immer deutlicher zu spürenden Folgen der Klimaerwärmung bereits prognostiziert wurden. Dass die Konferenz erst im 51. Jahr nach der Veröffentlichung dieses wegweisenden Berichts stattfand, war eine Nachwirkung der Corona-Pandemie.

Der strategische Kopf hinter dieser Konferenz, war der grüne belgische Europaabgeordnete Philippe Lambert. Unterstützt wurde er von 19 weiteren Abgeordneten aus fünf Fraktionen des Parlaments: The Greens/EFA, The Left, Sozialist & Demokrat (S&D), Renew Europe (Liberale) und EPP (Konservative). Nicht beteiligt waren die rechtsradikalen Fraktionen ECR und ID. Die Unterstützung aus Deutschland war mit zwei MdEP allerdings recht überschaubar: Manuela Ripa (Greens/EFA, sie gehört nicht den Grünen, sondern der ÖDP an) und Helmut Scholz (The Left). Die deutschen Grünen haben diese Konferenz nicht unterstützt, wie Lambert gegenüber dem Autor dieser Zeilen anmerkte.*

Die insgesamt 27 Veranstaltungen – 7 Plenarveranstaltungen (Plenary Sessions) und 20 Workshops (Focus Panels) – waren hochkarätig besetzt. Neben vielen anderen standen die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz auf der Liste der ReferentInnen, aber auch die Ko-Präsidentin des Club of Rome, Sandrine Dixson-Declève, und die Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EUTCC), Esther Lynch.

Auf einem hohen fachlichen Niveau ging es auf dieser Konferenz im Kern um die Frage, mit welchen Methoden und welchen Indikatoren wirtschaftlicher Erfolg und wirtschaftliche Entwicklungen angemessen erfasst werden können, denn sie die Grundlage vieler politischer Entscheidungen. Es ging also keineswegs nur, wie der eine oder die andere beim Lesen des Titels assoziieren mag, um Verzicht und Verbote, sondern ganz wesentlich um die Frage sachgerechter Maßstäbe und um die Frage, was unter heutigen Bedingungen und vor dem heutigen Wissensstand überhaupt als wirtschaftlicher Erfolgt bezeichnet werden kann.

Neben den klassischen Parameter wie die Summe der produzierten Güter und erstellten Dienstleistungen oder Import-Export-Überschüsse bzw. Defizite, ging zum Beispiel um die Frage, wie nicht bezahlte Arbeit erfasst werden kann. Denn sie stellt ebenfalls einen Wert dar, zumal sie oft Voraussetzung dafür ist, dass als wirtschaftlich relevant eingestufte Arbeit erbracht werden kann. Oder: Wie können Umwelt- und Klimabelastungen als negative Folgen wirtschaftlichen Handelns erfasst und in wirtschaftliche Erfolgsrechnungen einbezogen werden.

Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass es heute nicht akzeptabel ist, das in der nach wie vor dominierenden Standardgröße Bruttoinlandsprodukt keine Informationen über den Gesundheitszustand der Menschen in einem Land enthalten sind oder Informationen über die Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft. Es gibt zwar mittlerweile Methoden, solche Entwicklungen zu messen und darzustellen (Stichwort Well Being und Gini Koeffizient), aber sie fließen in die offiziellen Wirtschaftsdaten, die in der Regel die Grundlagen politischer Entscheidungen darstellen, in der Regel nicht ein.

Beyond Growth 2023 Conference – Pathways towards Sustainable Prosperity in the EU – Opening plenary, by DAINA LE LARDIC

Ein weiterer Aspekt war die Beleuchtung der internationalen Handelsbeziehungen. Deren Erfolg wird bis heute in Form der Handelsbilanzdefizite oder -überschüsse auf Basis nationaler Statistiken erfasst. Eine globale Handelsbilanz, die zudem auch ökologische und soziale Folgen der Handelspolitik für den gesamten Planeten erfassen, gibt es nicht. Aus Sicht der EU ist nach wie vor einerseits wichtig, Zugriff auf natürlich Ressourcen zu bekommen, über die die EU selbst nicht verfügt (Bodenschätze, Soja, etc.). Und andererseits geht es um Absatzmärkte für die in der EU produzierten Güter und erstellten Dienstleistungen auf globaler Ebene. Die sozialen und ökologischen Folgen der Ausbeutung von Bodenschätzen oder des Anbaus von Soja – beispielsweise in Brasilien – für die dort dortigen Gesellschaften oder gar indigene Bevölkerungsgruppen, die oft völlig rechtlos gestellt sind, werden in diesen Statistiken nicht erfasst. Andererseits werden gerade Gesellschaften im globalen Süden schon jetzt massiv von Folgen der Klimaerwärmung getroffen, ohne dass die dort lebenden Menschen relevant zur Klimaerwärmung beigetragen haben und Einfluss auf sie nehmen könnten. Mehr zu diesem Aspekt berichtet der Europaabgeordnete Helmut Scholz im Europa:Podcast.

Wie ein roter Faden zog sich durch die Konferenz die Botschaft, dass eine ökologische Transformation der Wirtschaft nicht ohne eine soziale Transformation möglich ist.

So betonte die Ko-Präsidentin des Club of Rome, Sandrine Dixson-Declève, in ihrem Eröffnungsstatement – wie schon zuvor die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen –, dass es auf der Basis einer fossilen Wirtschaft keine Zukunft mehr gäbe. Angesichts der steigenden Klimaerwärmung vergrößern sich die Spannungen in unseren Gesellschaften. Für Dixson-Declève stehen sich derzeit zwei Alternative unversöhnlich gegenüber: Entweder starke Demokratien mit hohem sozialen Ausgleich oder die Fortsetzung eines auf fossilen Energieträgern basiertem Wachstums, dass die Gesellschaften dann aber zerreißt. Die zentralen Aufgaben einer starken Demokratie sind nach Dixson-Declève, für eine klimaverträgliche Energiesicherheit, für eine sichere Lebensmittelversorgung und für wirtschaftliche Sicherheit zu sorgen im Sinne eines Well Beings bzw. im Sinne einer besseren Zukunft für Alle. Auch wenn die derzeitig Lage bedrohlich ist, konnte Dixson-Declève auch auf Zeichen der Hoffnung verweisen: Als Länder, in denen bereits ein alternativer Weg eingeschlagen wurde, nannte Dixson-Declève Island und Neuseeland. Um dorthin zugelangen, so die Ko-Präsidentin des Club of Rome weiter, helfen keine neuen Technologien, sondern neue ökonomisch Paradigmen, eine überzeugende politische Führung sowie eine Umverteilung des Wohlstands auf globaler Ebene (die ganze Rede von Declève kann hier nachgehört werden). In seiner Abschlussrede zu dieser Konferenz hat Philippe Lambert diesen roten Faden dann auch noch einmal aufgenommen, in de er betonte, dass soziale Gerechtigkeit und Klimapolitik untrennbar zusammen gehören.

Die Konferenz bot nicht nur hochkarätige inhaltliche Beiträge. Sie ist ebenfalls ein gutes Beispiel dafür, wie politische EntscheidungsträgerInnen konstruktiv mit den Forderungen vieler und oft junger Aktivistinnen umgehen können, die sich für einen wirksamen Klimaschutz einsetzen. Während in EU-Mitgliedsländern Behörden teils mit dem Strafrecht gegen Klimaschützer vorgehen, zeigt das Europäische Parlament, wie es auch anders gehen kann. In Deutschland gingen Staatsanwaltschaft und Polizei letztlich so scharf gegen Aktivistinnen von @AufstandLastGen vor, dass das Vorgehen sogar zum Thema auf der täglichen UNO-Pressekonferenz vom 25. Mai 2023 wurde und der Pressesprecher das Recht auf friedliche Proteste betonte und unterstrich, dass friedliche Proteste wesentlich zur Bewusstseinsbildung über die Klimakrise beigetragen hätten. Mit dieser Konferenz hat das Europäischen Parlament Hunderten von jungen Menschen aus ganz Europa die Möglichkeit geboten, sich im mit Abgeordneten, Beamtinnen der EU und Wissenschaftlerinnen über diese Fragen, die für die Bewältigung der Klimakrise von zentraler Bedeutung sind, auseinanderzusetzen und mit ihren Sorgen und Anliegen von Politikerinnen wahrgenommen und ernst genommen zu werden.

In bundesrepublikanischen Medien hat diese Konferenz trotz ihrer Größe und inhaltlichen Bedeutung keine Resonanz gefunden. Lediglich der englischsprachige ECONOMIST hat einen Verriss über diese Konferenz veröffentlicht: Meet the lefty Europeans who want to deliberately shrink the economy. Dass sich auch konservative und liberale Politikerinnen aus der EPP und Renew Europe aktiv an der Konferenz beteiligt haben, hat der Economist schlicht ignoriert.

Auch wenn man/frau nicht in allem den Überlegungen folgen mag, gibt es sehr viele Anregungen auf den Plenarsitzungen und Workshops. Denn es ist schon bemerkenswert, dass das größte und bedeutendste Parlament in Europa sich Parteigrenzen überschreitend in beispielgebender Weise und auf einem ungewöhnlich hohen Niveau mit dem drängendsten Problem, vor dem wir als Menschheit stehen, unsere Art des Wirtschaftens und die daraus resultierende Klimakrise, drei volle Tage im Rahmen einer Großveranstaltung befasst und dies kaum öffentliche und mediale Resonanz findet.

* Aufgrund eines Tippfehlers war in diesem Satz zunächst von den “deutschen Linken” die Rede. Wie dem obigen Text zu entnehmen ist, trifft diese Aussage natürlich nicht zu. Korrekt ist, dass es seitens der “deutschen Grünen” keine Unterstützung für diese Konferenz gab. (Update vom 13.06.2023)

Beyond Growth 2023 Conference – Pathways towards Sustainable Prosperity in the EU – Opening plenary, by Alexix HAULOT

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Titelbild: 2023 05 15 Beyond-Growth-Conference, by DAINA LE LARDIC, CopyRight: European Union 2023, Source: EP Reference EP-144447A

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