Ein Dokument von 4.000 Seiten mit detaillierten Zeugenaussagen wurden dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorgelegt. Expertinnen und Experten sagen, dass die NATO-Mitgliedschaft kein Grund sein kann, nicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Darüber berichtete am 1. März 2023 das Internet-Portal Middle East Diplomatic. Die folgende Veröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung dieses Artikels erfolgt mit Zustimmung des Autors.
Von Roni Alasor
Europäische Rechtsexperten der Anwaltskanzlei VSAdvocaten unter der Leitung des ehemaligen belgischen Kabinettsministers und emeritierten Professors für Verfassungsrecht, Johan Vande Lanotte, fordern mit Unterstützung der europäischen Richtervereinigung MEDEL (die 18.000 Richter in der EU vertritt) und dem Türkei-Tribunal den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) auf, die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit innerhalb des türkischen Regimes zu ermitteln.
Die Initiative hat detaillierte Zeugenaussagen von 1.300 mutmaßlichen Opfern gesammelt und das Beweismaterial auf 4.000 Seiten dokumentiert und dem IStGH-Ankläger Karim Khan vorgelegt.
Die europäischen Anwälte und Rechtsexperten machen deutlich, dass die Machthaber in der Türkei systematisch Übergriffe, Folter und Entführungen gegen die eigene Zivilbevölkerung organisiert haben.
Im Gespräch mit Middle East Diplomatic erklärte Lanotte: „Ganze 4.000 Seiten gut dokumentiertes Beweismaterial haben mich zwei Jahre meines Lebens gekostet. Es ist klar, dass es Verstöße gegen die grundlegenden Menschenrechte und eine bewusste Missachtung der Grundprinzipien des internationalen Rechts gibt. Wir sprechen hier von 200.000 Opfern von Folter, dem Verschwindenlassen von Menschen, Inhaftierung und Verurteilung ohne ordentliches Verfahren. Die Opfer sind die Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Es darf keinen Unterschied machen, ob die Verbrechen von Putin in der Ukraine oder von einem NATO-Mitgliedstaat begangen werden. Die Türkei verstößt strikt gegen das Völkerrecht und die Werte des Internationalen Strafgerichtshofs. Auch die NATO-Mitglieder unterliegen dem Völkerrecht, und die NATO kann vor den unmenschlichen Grausamkeiten nicht die Augen verschließen. Die NATO-Mitgliedschaft kann kein Grund sein, um nicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das verstieße ebenfalls gegen das Völkerrecht“.
Auf einer Pressekonferenz im niederländischen Den Haag informierte Lanotte internationale Pressevertreter auch darüber, dass inzwischen mindestens 20.000 Fälle aus der Türkei vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anhängig sind.
Lanote erklärte weiter, dass seit 2003 gegen mehr als 2 Millionen Menschen in der Türkei Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Organisation“ eingeleitet worden seien. „560.000 Menschen stehen vor Gericht. Offiziellen türkischen Statistiken zufolge haben 270.000 Menschen eine hierarchische Position in einer terroristischen Organisation inne. Das ist eine absurde Bilanz“, erläuterte er.
Lanotte betonte, dass der türkische Staat durch die Straffreiheit ermutigt würde, weiterhin gegen internationales Recht zu verstoßen, und forderte den IStGH-Ankläger daher auf, eine Untersuchung einzuleiten. Erdogan erkläre selbstgefällig und unverhohlen: „Wir können euch entführen, wohin wir wollen, wir können euch foltern. Niemand wird uns verurteilen“. Deutlicher könne man seine Missachtung der Menschenrechte und des internationalen Völkerrechts kaum zum Ausdruck bringen. „Die Verantwortlichen für diese Taten wussten, dass sie mit ihrem Tun gegen alle Grundregeln verstoßen,“ stellt Lanotte klar. „Aber sie waren sich auch sicher, dass sie unbestraft bleiben würden. Der Internationale Strafgerichtshof wurde eingerichtet, um diese Straflosigkeit zu beenden. Hier sollte der IStGH jetzt handeln, bevor noch mehr türkische Bürger leiden müssen. Wir fordern deshalb den IStGH-Ankläger auf, sich mit diesem Fall zu befassen, um sicherzustellen, dass keine Person als über dem Gesetz stehend betrachtet werden kann, selbst wenn sie als hoher Beamter eines westlichen NATO-Verbündeten dient. Die Lage ist sehr ernst. Auch die Staatsanwaltschaft sollte sich des Ernstes dieser Situation bewusst sein.“
Titelbild: International Criminal Court in Den Haag, United Nations Photo by Rick Bajornas CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR
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