Beitrag von Vesna Caminades

In der Europäischen Union sind ca. 94% der Menschen der Meinung, dass Tierschutz wichtig sei und dass man Tiere respektieren müsse. Ca. 87% glauben sogar, dass die derzeitigen Bemühungen verstärkt werden müssen. Über 85% plädieren dafür, durch effiziente und gezielte Informationskampagnen vor allem bei Jugendlichen das Bewusstsein für Tierwohl zu steigern. Fazit: Wir leben in einer nahezu perfekten Welt, d.h. unsere landwirtschaftlichen Nutztiere und Haustiere können sich eigentlich gar nicht wirklich beklagen …

Ist das die Realität oder birgt die intensive Produktion von landwirtschaftlichen Nutztieren nicht doch so einige Überraschungen? Die oben genannten Prozentsätze stammen aus der Eurobarometerumfrage, welche im März 2016 veröffentlicht wurde. Dazu wurden über 27.000 Bürger*nnen in allen Mitgliedstaaten befragt. Die EU ist nämlich grundsätzlich seit gut 40 Jahren bemüht, wo es in ihren Zuständigkeiten liegt, Regelungen für das Wohlergehen der Tiere einzuführen.

Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union regelt in Art. 13, dass die EU und die Mitgliedstaaten den Tierschutzerfordernissen voll und ganz Rechnung tragen müssen, wenn es um bestimmte Unionsstrategien geht, da Tiere „fühlende Wesen“ sind. Anmerkung am Rande, Tiere wurden erst ab 2009 zu Lebewesen mit Gefühlen erklärt, d.h. im Rahmen des Lissaboner Vertrages – man könnte sagen: „besser spät, als überhaupt nicht“.

Leider stellt die Verpflichtung, Tierschutzerfordernisse zu respektieren keine rechtliche Grundlage für eine Gesetzgebungskompetenz der Union in Fragen Tierwohl dar. Dies geschieht somit auf Ebene der Mitgliedstaaten, wobei mehr oder weniger Unterschiede herrschen können.

Weiteres Fazit: 1998 hat die EU die Richtlinie 98/58/EC über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere erlassen, welche „fünf Freiheiten des Tieres“ definiert.

  • Freiheit von Hunger und Durst;
  • Freiheit von Unbehagen;
  • Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten;
  • Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensweisen;
  • Freiheit von Angst und Leiden.

Wie bereits eingangs gesagt, man könnte glauben, wir leben in einer nahezu perfekten Welt … Ein Blick mit versteckter Kamera in so manchen Zuchtbetrieb oder Schlachthof lässt die Dinge allerdings ganz anders erscheinen, die Bilder würden die meisten von uns erschauern lassen. Die Wirklichkeit ist zu oft eine andere als jene, die man den Konsumenten gerne darstellen möchte. Glückliche Kühe auf der Weide beim Grasen, Hühner die entzückt im Freiland herumlaufen und nach Futter scharren, Ferkel, die sich in Freiheit genüsslich im Schlamm wälzen.

Zurück zu den Bemühungen auf EU-Ebene: durch die Strategie 2012-2015 soll das Thema Tierschutz strukturiert angegangen werden. Leitgedanke dieser Strategie war „Jeder ist verantwortlich“. Allerdings ging es dabei nicht nur um den Tierschutz, sondern auch darum die landwirtschaftlichen Produkte tierischen Ursprungs weltweit konkurrenzfähig zu machen. Das klingt allerdings irgendwo nach einem leichten Widerspruch oder? Tierwohl und Konkurrenzfähigkeit?

Aus der dreijährigen Strategie wurde schließlich die Umfrage abgeleitet, aus der die zu Beginn zitierten Daten stammen. Es wurde hinterfragt, was man unter Tierschutz versteht, welche Bedeutung diesem beigemessen wird, ob man bereit wäre, mehr für Produkte aus tiergerechten Zuchten zu zahlen, wie das Bewusstsein bzgl. Tierleid ist, usw.

Ein weiteres Ergebnis der Strategie ist schließlich die Schaffung einer sogenannten „EU-Plattform für Tierschutz“ im Juni 2017. 75 Vertreter von Interessensgruppen, NRO (Nichtregierungsorganisationen), Wissenschaft, Mitgliedstaaten, Ländern des Europäischen Wirtschaftsraumes, internationalen Organisationen und der EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) treffen sich zweimal pro Jahr zwecks Netzwerktätigkeit und Erfahrungsaustausch. Es geht um bessere Anwendung von Tierschutzvorschriften, Förderung von EU-Tierschutzstandards weltweit und Nutzung von freiwilligen Verpflichtungen von Unternehmen – Netzwerken allerdings ohne Gesetzgebungsbefugnis …

Doch wie schaut die Wirklichkeit aus? Eine Studie der tierärztlichen Hochschule Hannover aus dem Jahre 2017 hat enthüllt, dass 13,6 Millionen Schweine jährlich in sogenannten „Tierkörperbeseitigungsanlagen“ entsorgt werden. (…) Tiere sind Lebewesen mit Gefühlen …?!

Animals Watch e.V. – eine internationale Tierschutzorganisation hat in zwei Schweinemastanlagen in Deutschland durch Anwendung versteckter Kameras erst vor wenigen Tagen erschütternde Zustände dokumentiert. Diese wurden teilweise auch im ARD ausgestrahlt. Dabei ist zu sagen, dass die Artikel „Nottötungen in der Mast: Warum 13 Millionen Schweine im Müll landen“, der am 22.10.2019 im Spiegel erschienen ist und der Artikel „Mehr als 13 Millionen Schweine landen jedes Jahr im Müll“, der am 22.10.2019 in Utopia erschienen ist, zwar von Deutschland sprechen, allerdings gibt es solche Zustände auch in vielen anderen Mitgliedstaaten.

Ich zitiere aus dem Artikel Utopia (22.10.19) „Entzündete Gelenke und offene Wunden, Nabelbrüche, Klauenerkrankungen sowie blutig gebissene Schwänze und Ohrensind direkte Folgen der üblichen Mastbedingungen. Die betroffenen Tiere sind von vornherein als ‚Verluste‘ einkalkuliert“, schreibt Animal Rights Watch. Die Schweine von einem Tierarzt behandeln zu lassen, würde sich nicht lohnen. Daher lassen die Arbeiter in den Schweinmastanlagen die Tiere lieber sterben – oder töten sie.“

Die Wahrheit ist leider, dass es wirtschaftlich nicht rentabel ist, solche Tiere zu pflegen, da deren Preis pro Schlachtgewichtkilo so gering ist, dass die Behandlung zu teuer wäre. Sprach die Strategie 2012-2015 nicht davon, die landwirtschaftlichen Produkte tierischen Ursprungs weltweit konkurrenzfähig zu machen? Gehen Wirtschaftlichkeit und Tierwohl Hand in Hand?

Es stimmt, dass man diese Dinge nicht hören möchte, wenn man gerne Fleisch und Fisch ist, Milch und Eier. Solche Informationen riskieren, die Freude am Verzehr zu verderben. Dissoziation ist das magische Wort. Wenn ich mich nur auf das Stück Fleisch vor mir konzentriere, dann sehe ich kein Schwein, das bereits als Ferkel ohne Betäubung kastriert wird, eine Sau, die säugen muss, obwohl sie nicht einmal genügend Platz hat, um sich aufzurichten, keine Kuh, deren erst eintägiges Kalb weggezerrt wird, um geschlachtet zu werden oder als Milchkuh großgezogen zu werden, kein Geflügel, das als weibliches Küken mit Tausenden anderen auf engstem Platz ohne Tageslicht meistens als Legehenne dahin vegetieren muss oder als männliches Küken sofort durch Schreddern eliminiert wird, da ein männliches Küken unrentabel ist. Ja, es geht schließlich um das: Rentabilität, Konkurrenzfähigkeit. Wir können aber nicht wegsehen, nur um uns das Fleisch, den Fisch, die Milch und die Eier schmecken zu lassen.

Nur, weil wir dem Tier nicht in die Augen schauen, während es ohne Betäubung entblutet wird, oder bei nicht sachgerechter Betäubung noch länger leiden muss, bevor es endgültig gestorben ist, nur weil wir nicht die Todesangst im Blick sehen, die Panik, das Blut riechen können, das Schreien vor Schmerz und Angst hören können, – heißt das noch lange nicht – dass es all das nicht gibt. Viele Konsumenten glauben, Eier und Milch verursachen doch kein Tierleid?! Wir sehen nur die Milchflasche, die Kartonschachtel mit den glücklichen Hühnern, die im Freien herumlaufen – wir ignorieren in welchen Zuständen die Kühe und Hennen leben müssen, von denen das alles stammt. Wenn wir trotz allem, den Tieren zu Liebe, wissen wollen, was wirklich in sehr vielen – zu vielen Fällen – passiert, dann gibt es eine recht effiziente Methode. Die internationale Tierschutzorganisation „Animal Equality“ hat das Projekt „iAnimal“ entwickelt. Dank der virtuellen Realität werden die Zustände in Zuchtanstalten für Hühner, Schweine, Kühe dokumentiert. Diese Videos sind auch auf Youtube verfügbar.

iAnimal Trailer

https://www.youtube.com/watch?v=Ih4v_2pMlbg

42 Tage – iAnimal mit Christoph Maria Herbst (360° VR)

https://www.youtube.com/watch?v=TVyzanwd1FU

Literweise Leid – iAnimal mit Anastasia Zampounidis (360° VR)

https://www.youtube.com/watch?v=BUiKRsziaS8

Dissoziation, also die Tatsache in dem Fall, das Fleisch vom Tier, von dem es stammt,  total zu trennen, um keine Verbindung zwischen den beiden herzustellen – kann  nicht länger eine Entschuldigung sein. Lasst uns den Mut finden, uns zu fragen: was steckt dahinter? Woher kommen diese Produkte, wie werden sie hergestellt? I wanna know what’s behind – IAMA

Titelbild: Jürgen Klute CC BY-NC-SA 4.0

Wer Fragen oder Anregungen zu diesem Thema an Vesna Caminades hat, kann sich unter dieser E-Mail-Adresse an sie wenden: iama4iwannaknow |et| gmail.com oder Mobile Phone +32488617321.

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