Das diesjährige Gutachten der deutschen Friedensforschungsinstitute BICC, HSFK, IFSH und INEF, das am 16. Juni 2020 auf der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt wurde, trägt den Titel „Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa“. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter des Friedens, sprach mit BICC-Direktor Prof. Dr. Schetter (53) über das Friedensprojekt Europa, den Grenzgang zwischen Wissenschaft und Politik sowie über die Frage, ob die Handlungsempfehlungen des Friedensgutachtens nur eine Illusion sind. Das Interview erschien erstmals am 16.06.2020 auf “Gesichter des Friedens”.

Sven Lilienström: Herr Prof. Dr. Schetter, als wissenschaftlicher Direktor des „Bonn International Center for Conversion“ (BICC) möchten wir auch Sie gerne zuallererst fragen: Was bedeutet Frieden für Sie ganz persönlich?

Conrad Schetter: Natürlich ist Frieden ein enorm schwammiger Begriff, unter dem jeder etwas anderes fasst. Ich verstehe Frieden als Versuche, soziale Ungleichheiten zu überwinden. Hierbei kommt es vor allem darauf an, wie Prozesse der Friedensfindung gelingen können, ohne dass Gewalt – physisch wie strukturell – angewendet wird. Daher darf man Frieden nicht mit einem paradiesischen Endzustand verwechseln, sondern kann ihn jeden Tag erleben.

Sven Lilienström: Klimawandel, nukleare Aufrüstung, Radikalisierung – und jetzt noch das Coronavirus. Sieht die Welt aus Perspektive der Friedensforschung nicht düster aus? Was muss passieren, damit unser Planet friedlicher wird?

Conrad Schetter: Aus Sicht der Friedensforschung ist es eine Frage des Blickwinkels, ob die Welt als friedlicher oder kriegerischer wahrgenommen werden kann. Interessant ist etwa, dass wir seit Ende des Zweiten Weltkrieges insgesamt eine Abnahme der Kriegstoten erleben – bei einer gleichzeitig wachsenden Zahl von Gewaltkonflikten. Sprich, heute haben wir es – trotz der Gewalteskalation in Syrien, der Demokratischen Republik Kongo oder Afghanistan – mit vielen schwelenden Konflikten mit geringer Intensität zu tun. Insgesamt muss man allerdings die nüchterne Feststellung treffen, dass die Friedensarchitektur, die seit dem Zweiten Weltkrieg entstand, in einem atemberaubenden Tempo gegenwärtig zusammenbricht. Es liegt eine Gefahr darin, dass sich die internationale Gemeinschaft in der letzten Zeit von immer mehr vertrauensbildenden Foren, Verträgen und Abkommen verabschiedet hat, über die die großen Herausforderungen der Zukunft angegangen werden können. Im Friedensgutachten beleuchten wir diese Frage in Bezug auf China und Russland aber auch die USA.

Sven Lilienström: Sie sind Mitherausgeber des Friedensgutachtens 2020, welches heute auf der Bundespressekonferenz vorgestellt wurde. Welche Entwicklungen gibt es seit dem letzten Gutachten? Welche Trends lassen sich erkennen?

Conrad Schetter: Ein zentraler Trend ist sicherlich, dass sich die Rüstungspolitik durch eine Europäisierung verändert. Hier schmerzt den Friedensforscher, dass ausgerechnet das europäische Friedensprojekt nun über europäische Rüstungskooperationen gestärkt werden soll und die Schwelle für Rüstungsexporte in Kriegsgebiete herabgesetzt werden wird. Das ist ein zentrales Problem, das wir ansprechen. Ein weiterer Trend ist, dass wir weltweit Protestbewegungen beobachten können, die in ganz unterschiedliche Kontexte eingebunden sind und auch ganz unterschiedliche Forderungen adressieren. Der Ruf nach demokratischen Bürgerrechten ist auf Demonstrationen in Hongkong ein anderer als auf Corona-Demos in Berlin. Interessant erscheint, dass die politische Praxis weltweit immer weniger vermag, Proteste zu kanalisieren. Ein dritter Trend, dem wir nachspüren, ist die Verbindung von Klimawandel und Konflikten. Der wissenschaftlichen Redlichkeit des Friedensgutachtens ist es geschuldet, dass wir hier keine direkte Kausalkette aufmachen. Dennoch verdeutlichen wir an vielen Beispielen, dass der Klimawandel zur Verschärfung vieler bestehender Konflikte beitragen wird.

Sven Lilienström: Das Friedensgutachten trägt den Titel „Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa“. Was meinen Sie genau mit „letzte Chance für Europa“? Wo sehen Sie Deutschland und die Europäische Union in Zugzwang?

Conrad Schetter: Die Corona-Krise verdeutlichte, dass in Krisen die Regierenden sofort wieder in Kleinstaaterei verfallen, Grenzen hochziehen und vom europäischen Gedanken nicht mehr viel übriglassen. Wie sehr solidarisches Handeln hier einfach wegbrach, verstärkte die Krise der Europäischen Union. Daher befindet sich das Friedensprojekt Europa am Scheideweg: Aus Corona, so unser Plädoyer, muss die Erkenntnis erwachsen, dass Europa nun gestärkt werden muss, um bei der nächsten Krise eine gemeinsame Antwort zu finden. Europa kann an der Corona-Krise wachsen. Dabei geht es nicht allein um finanzielle Ausgleiche, sondern auch darum, wie man innerhalb der Europäischen Union miteinander umgeht.

Sven Lilienström: Im Friedensgutachten weisen Sie zudem darauf hin, dass im Schatten der Pandemie andere Friedensgefährdungen aus dem Blick geraten. Welche sind das? Inwieweit ist die Corona-Krise ein „Konfliktverschärfer“?

Conrad Schetter: Über die Hinterhöfe der Gewalt, wie etwa in Mali, DR Kongo, Afghanistan oder Jemen wird in den Medien kaum noch gesprochen. In gleicher Weise interessieren globale Flüchtlingsströme nur dann, wenn sie direkt nach Europa ziehen, nicht aber in Ostafrika oder Myanmar. Problematisch ist, dass gerade in Ländern mit großer sozialer Ungleichheit, wie etwa in Südafrika oder Brasilien, die Corona-Ausnahmesituation bestehende Konflikte verschärft. Die Hauptlast der Corona-Krise haben die Länder des Südens zu tragen, in denen Wirtschaftssysteme vor dem Zusammenbruch stehen.

Daher glaube ich, liegen die Beobachter falsch, die sagen, dass der Corona-Lockdown in nahezu allen Ländern doch glimpflich ablief. Ob und wie die Maßnahmen des Corona Lockdowns zu politischem Aufbegehren oder Umbrüchen führen werden, wird sich erst in Monaten oder Jahren zeigen. Wie wir gerade in den USA erleben, bedarf es eines konkreten Anlasses, damit soziale Ungleichheit in Protest umschlägt.

Sven Lilienström: 2019 forderten Sie die “multilaterale Rüstungskontrolle zu stärken“. Die Realität: Ein neues Wettrüsten, gekündigte Abkommen, die USA – nicht bündniswillig. Sind die Handlungsempfehlungen des FGA illusorisch?

Conrad Schetter: Natürlich sind die Empfehlungen des FGA zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren angesiedelt. Jedoch sind unsere Empfehlungen stets so konkret und realistisch, dass sie sich in praktische Politik umsetzen lassen. Daher wird das Friedensgutachten von der Friedensbewegung auch immer wieder als zu wenig idealistisch kritisiert. Doch wenn man Politik ändern will, müssen wir uns mit den kleinteiligen Fragen der Politik auseinandersetzen – auch wenn wir die großen Zusammenhänge nicht aus den Augen verlieren wollen. Zu Ihrer Frage zurückkehrend, wir sehen, dass Deutschland – gerade aufgrund der schwer berechenbaren Politik von Donald Trump – zunehmend an Einfluss im internationalen Agenda-Setting gewinnt. Immer mehr richten sich die Augen auf Berlin, um eine globale Friedensordnung wieder zu institutionalisieren. Deutschland ist daher ein wichtiger Akteur, gerade um den Multilateralismus zu stärken.

Sven Lilienström: Die Corona-Krise zeigt: Wissenschaftliche Politikberatung ist eine Gradwanderung. Befürchten Sie als Mitherausgeber des Friedensgutachtens künftig für Entscheidungen der Politik verantwortlich gemacht zu werden?

Conrad Schetter: Schön wäre es! Leider hört die Politik viel zu selten auf die Wissenschaft beziehungsweise sehen wir Forschenden umgekehrt oftmals nur bruchstückhaft die politischen Zwänge, in denen Politiker gefangen sind. Auch sollten wir selbstkritisch zugeben, dass der Dialog mit der Politik nicht unproblematisch ist. So sehr wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf unsere Unabhängigkeit bedacht sind, besteht immer die Gefahr, dass unsere Empfehlungen von der Politik anders gelesen werden. Das ist das Schicksal, wenn man sich auf den Grenzgang zwischen Wissenschaft und Politik einlässt, den ja viele Wissenschaftler scheuen. Am Ende muss man sich der berechtigten Kritik aussetzen, eine Abgrenzung von der Politik nicht durchzuhalten.

Titelbild: Malle de paix | Foto: Club des artistes ENSISHEIM CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

Prof. Dr. Conrad Schetter | Foto: JRF

Über die Initiative Gesichter des Friedens:

Die Initiative Gesichter des Friedens wurde im Jahr 2019 als friedensförderndes Äquivalent der Initiative Gesichter der Demokratie gegründet. Unserem Leitmotiv „Sign for Peace and Security!“ entsprechend möchten wir ein Zeichen zum Schutz und zur Stärkung von Frieden, Sicherheit und Stabilität setzen. In der Rubrik Sieben Fragen an stellen wir zudem regelmäßig interessanten Persönlichkeiten sieben Fragen zu den Themen Friedensschaffung und Friedenserhaltung, Sicherheitspolitik sowie Konfliktprävention. Die ersten „Gesichter des Friedens“ sind SIPRI-Direktor Dan Smith, der Vorsitzende der Atlantik-Brücke Sigmar Gabriel, der OSZE-Vorsitzende 2019 und Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Slowakei Miroslav Lajčák, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Prof. Dr. Volker Perthes und der Stabschef der 69. U-Boot-Brigade der Nordmeerflotte Wassili Archipow.

Über die Initiative Gesichter der Demokratie:

Seit Gründung der Initiative Gesichter der Demokratie im Februar 2017 haben bereits mehr als 600.000 Menschen die Selbstverpflichtung zum Schutz und zur Stärkung der demokratisch-zivilgesellschaftlichen Grundwerte unterzeichnet. Mediale Aufmerksamkeit erhält die privat organisierte Initiative durch zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft – darunter der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, Norwegens Premierministerin Erna Solberg, die Staatspräsidentin der Republik Estland Kersti Kaljulaid, der Bundesminister des Auswärtigen Heiko Maas, Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank und OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger. Alle gemeinsam setzen mit ihren persönlichen Statements ein nachhaltiges und öffentlichkeitswirksames Signal für mehr Toleranz, Pluralismus, Diversität und Meinungsfreiheit.

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