Von Jürgen Klute

Im Februar 2019 hat das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens per Dekret einen permanenten Bürgerdialog eingeführt. Das hat damals große Beachtung und viel positive Resonanz weit über die Grenzen Ostbelgiens hinaus gefunden. Zum einen, weil dieses Instrument direkter bzw. partizipatorischer Demokratie dauerhaft eingeführt wurde, zum anderen wegen seiner Struktur und seiner Verankerung in den repräsentativ-demokratischen parlamentarischen Prozessen. Denn das Verhältnis zwischen den durch Wahlen legitimierten Parlamenten als Gesetzgeber und einem durch Losverfahren besetzten Bürgerdialog mit vielen guten Vorschlägen, aber ohne Gesetzgebungskompetenz, ist ein kritischer Punkt.

Im September 2019 hat der Bürgerdialog seine Arbeit aufgenommen. Ende März 2022 wurde der erste Beratungs- und Themenzyklus mit einem Bericht des Parlaments abgeschlossen. Zwei weitere Themen sind derzeit noch im Beratungsprozess: „Inklusion macht Schule“ und „Wohnraum für alle“.

Am 30. März wurde der vorläufige parlamentarische Abschlussbericht auf einer öffentlichen Sitzung des Parlaments, an der neben interessierten Bürgern auch Mitglieder der Bürgerversammlung und des Bürgerrats teilgenommen haben, vorgestellt und diskutiert. Die Sitzung wurde im Internet übertragen und kann auf der Webseite des Parlaments abgerufen werden. Nachdem die Rückmeldungen der Bürger in den vorläufigen Abschlussbericht eingearbeitet worden sind, wird die endgültige Fassung des Berichts als Parlamentsdokument veröffentlicht.*

Mit dem veröffentlichen parlamentarischen Abschlussbericht liegen dann erste Aussagen über die tatsächliche Wirksamkeit des ostbelgischen Bürgerdialogs vor.

So arbeitet der Bürgerdialog in Ostbelgien

Die zu behandelnden Themen hat der Bürgerrat festgelegt. Er ist zuständig für die Themenfindung und die Organisation des Bürgerdialogs. Unterstützt wird er dabei durch ein mit einer Stelle ausgestattetesSekretariat, das beim Parlament angesiedelt ist. Die eigentliche Beratung findet dann in der Bürgerversammlung statt. Ihr gehören bis zu 50 Personen an. Sowohl für den Bürgerrat als auch für die Bürgerversammlung werden die Mitglieder durch ein gewichtetes Losverfahren ermittelt.

Vorschlagsberechtigt für die Themen sind die Mitglieder des Bürgerrates, Mitglieder der Fraktionen des Parlaments, die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft sowie alle Bürger und Bürgerinnen. Die konkreten Bedingungen für die , Vorschläge sind im Dekret zur Einführung des Bürgerdialogs vom 25. Februar 2019 festgelegt.

Aus den eingebrachten Vorschlägen hat der Bürgerrat im November 2019 für das Thema „Pflege geht uns alle an! Wie können die Pflegebedingungen für Personal und Betroffene verbessert werden?“ für den ersten Beratungszyklus ausgewählt.

Die Bürgerversammlung hat dann in vier (coronakonformen) Sitzungen im Laufe des Jahres 2020 das Thema bearbeitet. Bei Bedarf kann die Versammlung auf den Rat externer Experten zurückgreifen. Am Ende des Beratungsprozesses standen 14 Vorschläge, die dem Parlament zur weiteren Bearbeitung vorgelegt wurden. Die Beschlussfassung in der Bürgerversammlung soll – wie auch im Bürgerrat – möglichst einstimmig erfolgen. Nur wenn sich nach mehreren Versuchen keine Einstimmigkeit erzielen lässt, kann in der Bürgerversammlung ein Beschluss auch mit einer 4/5-Mehrheit herbeigeführt werden.

Die Rolle des Parlaments und der Regierung

Das Ergebnis der Bürgerversammlung muss anschließend in den zuständigen Fachausschüssen des Parlaments beraten werden, wobei das Parlament frei ist, welche Konsequenzen es aus den Empfehlungen zieht. In seiner Gesetzgebungskompetenz bleibt das Parlament somit unbeschnitten. Die Beratungsergebnisse des Parlaments müssen wiederum in einem Abschlussbericht zusammengefasst und veröffentlicht werden. Darin muss dargelegt werden, auf welche Weise die Vorschläge umgesetzt wurden bzw. umgesetzt werden sollen, oder es muss begründet werden, weshalb das Parlament die Vorschläge nicht umsetzen will. Damit ist sichergestellt, dass das Parlament sich detailliert mit den Ergebnissen eines Bürgerdialogs auseinandersetzen muss und sie nicht einfach ignorieren kann.

Die vier Ausschüsse des 25 Mitglieder umfassenden Parlaments haben auf 36 Seiten ihre Stellungnahmen zu den 14 Empfehlungen  des ersten Bürgerdialogs festgehalten. Der Bericht folgt einer klaren Systematik. Zunächst wird dargelegt, wie sich der Parlamentsausschuss mit dem Thema befasst hat. Dann folgen je eine Zusammenfassung der Empfehlungen der Bürgerversammlung und der Stellungnahme des zuständigen Ausschusses dazu. Danach wird die weitere Bearbeitung des Themas durch die Regierung dargestellt. Abschließend werden noch einmal Schlussfolgerungen des Ausschusses im Blick auf die Umsetzung der Empfehlungen durch die Regierung gezogen. Und auch die Bürgerversammlung kann noch einmal eine Stellungnahme dazu abgeben.

Die Ergebnisse des 1. Bürgerdialogs

Die 14 Empfehlungen der Bürgerversammlung zum Thema Pflege decken die Bereiche Ausbildung, Arbeitsbedingungen, bedarfsgerechte Versorgung und die Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen ab. Nicht in allen Fällen ist das Parlament den Empfehlungen der Bürgerversammlung gefolgt. Die weitreichendste Empfehlung betrifft die Ausbildung zu Pflegeberufen. Die Bürgerversammlung hatte die Einführung einer dualen Ausbildung nach deutschem Vorbild mit niedrigerschwelligem Zugang vorgeschlagen (in Belgien erfordern auch Pflegeberufe ein Studium), um dem Personalmangel in der Pflege zu begegnen. Weder der zuständige Ausschuss noch die Regierung wollten diesen Vorschlag aufnehmen. Eine solche Maßnahme würde, so die Begründung, eine Anerkennung durch die Föderalregierung erfordern. Stattdessen wollen Parlament und Regierung die bestehenden Ausbildungsmöglichkeiten verbessern.

Auch der Vorschlag, Studierenden der Pflegeberufe und Praktikanten ein Gehalt zu zahlen, wurde nicht aufgenommen, da die Kosten für die Ausbildung schon sehr gering seien. Stattdessen schlug das Parlament vor, bestimmte Gebühren zu erlassen, und die Regierung will ein Stipendiensystem einführen.

Vorschläge zur Verbesserung der Mitbestimmung von Bewohnern der Einrichtungen und der Angehörigen wurden ganz oder zum Teil aufgenommen.

Einige Vorschläge zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen in der Pflege wurden teilweise übernommen oder haben zur Überprüfung bereits bestehender Regelungen geführt.

Letztlich wurden nur fünf der 14 Empfehlungen nicht aufgenommen. Aber auch in diesen Fällen kam es laut Abschlussbericht zu einer Überprüfung bestehender Regeln und zu punktuellen Verbesserungen

Ob die Befassung des Parlaments und der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft den Erwartungen der Bürgerversammlung bzw. den der Bürgerinnen und Bürger insgesamt entspricht, lässt sich dem Abschlussbericht nicht entnehmen. Deutlich wird jedoch, dass Regierung und Parlament dieses neue Instrument der direkten Demokratie ernst nehmen, obwohl es zum Teil in einem gewissen Spannungsverhältnis zur repräsentativen Demokratie steht. Man kann sagen, dass die Empfehlungen des Bürgerrates Gehör finden und Wirkungen zeigen.

*Update vom 05.04.2022

Link zum Artikel

Titelbild: 1. Bürgerversammlung in Ostbelgien zum Thema „Pfelge“. Foto: © Bürgerdialog

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