In der belgischen Hauptstadt rührt sich was: Kompostinitiativen und Bio-Genossenschaften schießen hier seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden

Von Hanna Penzer

„Während des Lockdowns im Frühjahr waren die Straßen bei uns wie leergefegt. Es war am Stadteilkompost, wo man hin und wieder vertrauten Gesichtern begegnete“, erinnert sich Marie-Jo. Die Rentnerin wohnt unweit der europäischen Institutionen, in einem bürgerlichen, von Jugendstilbauten gesäumten Stadtteil Brüssels. Im vergangenen Jahr hatte sie dort mitgeholfen, einen Compost de quartier auf die Beine zu stellen. An einem sonnigen Oktobernachmittag stehen wir nun auf dem Gelände einer ehemaligen Gendarmerie-Kaserne, um mit zwei Dutzend Mitstreitern das 1×1 des Kompostierens zu lernen. Mit Gummistiefeln und Notizzetteln gerüstet, mustern wir die dort neben einem Hühnergehege aufgestellten Kompostkästen: Wurden genug Holzspäne beigemischt? Sind Geruch und Temperatur in Ordnung? Und was raschelt zwischen Orangenschalen und Avocadokernen so verdächtig?

190 dieser dezentralen Kompoststellen gibt es in der Stadt und ihren angrenzenden Gemeinden inzwischen. Jeder darf mitmachen, nach Anmeldung erhalten Interessierte eine kurze Einweisung: Dürfen die Eierschalen in den Kompost? Und wie sieht es mit der kompostierbaren Plastiktüte aus? Die Nachbarschaftsinitiativen werden von der Region unterstützt: Jahr für Jahr bildet sie ehrenamtliche Kompostmeister aus, die den Aktiven vor Ort zur Seite stehen. Als Anlaufstellen in ihren Stadtvierteln betreuen die Maîtres-Composteurs Infostände und können bei Fragen in Beschlag genommen werden – so soll verhindert werden, dass eine gut gemeinten Idee in üblem Gestank und Nachbarschaftszwist endet.

Foto: privat

Einer der Gründe für den Erfolg der Brüsseler Stadtteilkomposte: Bis 2017 landeten Lebensmittelabfälle hier nahezu durchgehend im Restmüll. Seit gerade einmal drei Jahren können Bürger ihre Lebensmittelreste getrennt entsorgen. Während der Restmüll unweit der Königsresidenz zur Stromgewinnung verfeuert wird, liegt die Verwertung des Biomülls in den Händen von Suez, einem Global Player im Bereich der Abfallwirtschaft und Wasserversorgung. In den Biogasanlagen von Lüttich und Ypern wird aus den getrennt gesammelten Bioabfällen Strom und Düngemittel erzeugt.

Das plötzliche Interesse an einer ressourcenschonenderen Verwertung von Lebensmittelabfällen kommt nicht von ungefähr, denn seit einigen Jahren gilt es, die Recyclingquoten der EU zu erfüllen. Bereits dieses Jahr sollen die Mitgliedstaaten 50 % des anfallenden Haushaltsmülls wiederverwerten; von 2023 an muss Biomüll durchgehend getrennt gesammelt werden – so sieht es das vor zwei Jahren beschlossene Paket zur Kreislaufwirtschaft vor. Organische Abfälle enthalten wertvolle Stoffe, wie Phosphor, Stickstoff und Mineralien. Angesichts zunehmend ausgelaugter Agrarböden werden diese Stoffe in der Landwirtschaft dringend zur Düngung benötigt. So geht die Verfeuerung von Bioabfällen nicht nur zulasten der Atmosphäre, sondern entzieht diese Stoffe auch ihrem natürlichen Kreislauf.

Von Hühnern und Genossenschaften

Dieser Ansicht war auch Benoît Salsac, als er seinen Gartenkompost einst für seine Nachbarn öffnete, die ihre Küchenabfälle fortan bei ihm abliefern konnten. Die Resonanz auf die Idee des damaligen Studenten der Agrarökonomie war enorm und der erste Brüsseler Nachbarschaftskompost war geboren. 2008 gründete Benoît den gemeinnützigen Verein WORMS, der bis heute das Netz der Stadtteilkomposte betreut und die ehrenamtlichen Betreuer ausbildet.

Dass die Brüsseler Regionalregierung das Kompostnetz unterstützt, verdankt sich insbesondere ihrem Good Food-Plan. Unter dem Motto „besser produzieren – besser essen“ haben sich die verantwortlichen Politiker das ehrgeizige Ziel gesetzt, die Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln zurück in den Ballungsraum zu holen und lokale Kreisläufe zu unterstützen. Dabei scheuen sie auch vor unkonventionellen Wegen nicht zurück: Die im Rahmen des Good Food-Plans auf die Beine gestellten Projekte sind praxisorientiert und reichen von Workshops zur Hühnerhaltung im eigenen Garten, über Starthilfen für Genossenschaften bis hin zu Qualitätssiegeln für Restaurants und Cafés. Die Good Food-Initiative hat einen Rahmen geschaffen, dank dem Unternehmensgründungen im Lebensmittelsektor zuletzt boomten. Die neuen Akteure bedienen die wachsende Nachfrage der Verbraucher nach veganen, unverpackten oder lokal erzeugten Angeboten.

Für die belgische Gastronomie- und Lebensmittelbranche bedeutend die strengen Lockdown-Maßnahmen einen schweren Einschnitt. Sicher ist: Eingefahrene Gewohnheiten werden aufgebrochen und im Homeoffice dürften nur wenige Küchen kalt bleiben. Und wer weiß: Vielleicht landen noch mehr Küchenabfälle statt im Ofen einer Müllverbrennungsanlage künftig in den Kästen der Brüsseler Stadtteilkomposte.

Titelbild / Foto: privat

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