Beitrag von Jürgen Klute

Belgien ist ein erstaunliches Land. Ein ganz besonderes Kapitel sind die Regierungsbildungen. 2009/10/11 dauerte die Regierungsbildung 541 Tage. Während dieser Zeit hatte Belgien sogar die Europäische Ratspräsidentschaft inne – mit nur einer geschäftsführenden Regierung.

Die jetzt neu gebildete föderale Regierung in Belgien hat nur geringfügig weniger Zeit gebraucht, um zustande zu kommen: rund 500 Tage. Gewählt wurde bereits im Mai 2019, zeitgleich mit der Europawahl.

Die alte Regierung war jedoch schon im Dezember 2018 zerbrochen. Weil der damalige belgische Premierminister Charles Michel (er gehört der wallonischen liberalen Partei MR (Mouvement Réformateur) an, seit dem 1. Dezember 2019 ist er der permanente Vorsitzende des Europäischen Rates) dem UN-Migrationspakt zugestimmt hatte, hatte die rechts-nationalistische flämische Partei N-VA die Regierung verlassen.

Die Regierungsbildung nach der Wahl vom 26. Mai 2019 (neben der Europawahl fanden an diesem Tag die Föderalwahlen und die Regionalwahlen statt; die Ergebnisse sind hier einsehbar) hatte sich als extrem schwierig erwiesen, weil im wallonischen Teil Belgiens die sozialistische Partei (SP; 20 Sitze in der belgischen Abgeordnetenkammer; – 3 Sitze gegenüber den Wahlen von 2014) die meisten Stimmen erzielte und im flämischen Teil die separatistische N-VA (25 Sitze; – 8 Sitze gegenüber 2014). Zudem konnte die noch weit rechtsextremere und ebenfalls separatistische flämische Partei Vlaams Belang einen erheblichen Stimmenzuwachs verzeichnen. Mit 18 Sitzen (+ 15 gegenüber 2014) ist sie die drittstärkste Partei im belgischen Parlament. Dann folgen: MR (14 Sitze; – 6 gegenüber 2014), Ecolo (13 Sitze; + 7 gegenüber 2014), CD&V (12 Sitze; – 6 gegenüber 2014), Open VLD (12 Sitze; – 2 gegenüber 2014), PTB*PVDA (12 Sitze; + 12 gegenüber 2014), SP.A (9 Sitze; – 4 gegenüber 2014), Groen (8 Sitze; +2 gegenüber 2014), CDH (5 Sitze; – 4 gegenüber 2014) und DéFI (2 Sitze; unverändert gegenüber 2014).

Belgien hat keine gesamtbelgischen Parteien. Die beiden Landesteile Wallonie und Flandern wählen jeweils ihre eigenen Parteien. Eigentlich ist vorgesehen, dass in der föderalen Regierung die Parteien, die in den jeweiligen Landesteilen die meisten Stimmen erzielt haben, vertreten sein sollen.

Für eine Regierungsbildung waren ehe mehr als nur die beiden stärksten Parteien beider Landesteile erforderlich. SP und Grüne haben sich jedoch geweigert, sich an einer Koalition mit der N-VA zu beteiligen – nicht zuletzt, weil die N-VA in der Vorgängeregierung eine mehr als kritikwürdige Rolle gespielt hat. Das hat die Regierungsbildung zusätzlich verkompliziert.

Das Ergebnis der Verhandlungen ist allerdings in einem positiven Sinne bemerkenswert. Sowohl im Blick auf die Parteien, die an der Regierung beteiligt sind, als auch im Blick auf die Personen ist die neue belgische Regierung erfrischend und ungewöhnlich bunt zusammen gesetzt.

Beteiligt sind an der Regierung Sozialisten, Liberale, Grüne und flämischen Christdemokraten bzw. nach Landesteilen: MR und Open VLD (Liberale), SP.A und PS (Sozialisten), Groen und Ecolo (Grüne) sowie die flämischen Christdemokraten CD&V.

Elf der zwanzig Mitglieder der Regierung sind im übrigen Frauen. Das deutschsprachige belgische Nachrichtenportal Flanderninfo stellt die Mitglieder der neuen Regierung in dem Artikel „Überraschende Figuren, viele Frauen: Das ist die neue belgische Bundesregierung“ vor.

Kernpunkte des Koalitionsvertrages sind:

„Zuvor wurde noch einmal über die Basiskriterien des anstehenden Koalitionsvertrags gesprochen. Darin sind Elemente enthalten, mit denen jede Partei bzw. politische Familie einige ihrer Eckpunkte wiederfindet: 1.500 € Mindestrente und eine Erhöhung des Budgets für das Gesundheitswesen um 2,5 % für die Sozialisten, eine nächste Form der Staatsregierung und keine Lockerung des Abtreibungsgesetzes für die Christdemokraten, für die Grünen gibt es konkrete Schritte in Richtung Atomausstieg und für die Liberalen Reformen am Arbeitsmarkt, keine neuen Steuern und eine strengere Haushaltsdisziplin.“ (“Mit den Regierungsbildnern De Croo und Magnette rückt Belgien einen Schritt näher an ‘Vivaldi'” Flanderninfo vom 23. September 2020)

Dass es den demokratischen Parteien in Belgien trotz aller Schwierigkeiten über ein so breites Spektrum hinweg gelungen ist, eine Regierung ohne Beteiligung die beiden rechten Parteien Flanderns zu bilden, obgleich die N-VA – wie gesagt – in Flandern die meisten Stimmen erzielte, erzeugt auf Seiten der N-VA und des Vlaams Belang erwartungsgemäß Widerspruch. Sie halten diese Regierung für anti-flämisch (“Debatte zur Regierungserklärung der ‘Vivaldi’-Koalition”, Flanderninfo, 2. Oktober 2020) – obgleich vier flämische und nur drei wallonische Parteien in der Regierung vertreten sind. Der Vlaams Belang hatte dagegen bereits am 27. September in Brüssel eine Demonstration gegen diese sich anbahnende Koalition (“Rechtsextreme Vlaams Belang protestiert in Brüssel gegen die geplante Vivaldi-Koalition”, Flanderninfo, 27. September 2020) organisiert.

Die Koalition wird in Belgien als Vivaldi-Koalition bezeichnet, weil die Zusammensetzung aus vier Partiefamilien (Sozialisten, Grüne, Liberale aus beiden Sprachgemeinschaften sowie die flämischen Christdemokraten ohne ihren frankophonen Gegenpart) an die Oper „Die vier Jahreszeiten“ von Vivaldi erinnere, erklärt das Flanderninfo (“Machtwechsel mit Vivaldi auf Vinyl und Kaffeetasse”, Flanderninfo, 1. Oktober 2020).

Das Verdienst für das Zustandekommen der Vivaldi-Koalition wird vor allem dem flämischen Liberalen Alexander De Croo zugerechnet aber auch dem wallonischen Sozialisten Paul Magnette.

Alexander De Croo ist der neue Premierminister Belgiens. Am 1. Oktober gab er eine erste kurze Regierungserklärung ab. Zwei Aspekte sind an dieser Erklärung beachtenswert. Zum einen tagte das belgische Parlament im Brüsseler Plenarsaal des Europäischen Parlaments, damit die 170 belgischen Parlamentsmitglieder (davon 150 Abgeordnete plus 20 Regierungsmitglieder) coronabedingt ausreichend Abstand zueinander halten konnte. Der Plenarsaal des Europäischen Parlaments hat Platz für rund 800 Personen. Politikerinnen und Politiker in Belgien – einschließlich des Königshauses – legen äußerst hohen Wert darauf, vorbildlich zu sein bei der Einhaltung der Coroanschutzmaßnahmen. Denn Gesetzte gelten in einer Demokratie selbstverständlich auch für die Gesetzgeberinnen.

Inhaltlich bemerkenswert ist diese Position des neuen Premierministers: “De Croo wies auch auf die Investitionen in die Sozialpolitik u. a. die Anhebung der Mindestpensionen und in die Gesundheitssorge hin“, heißt es auf Flanderninfo (“Regierungserklärung von Premier De Croo: so kurz und bündig wie nie”, Flanderninfo, 1. Oktober 2020).

Aus deutscher Perspektive ist es beachtlich, dass ein Liberaler wie De Croo von Investitionen in die Sozialpolitik spricht und damit die Anhebung von Mindestpensionen meint und die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge.

Dabei hat es bereits im Sommer eine für deutsche Verhältnisse beachtliche Lohnerhöhung für das Krankenhauspersonal in Belgien gegeben: im Schnitt 6 % bei einer Spannbreite von 4 % bis 9 %, je nach Bereich. Zudem sollen bis zu 4.000 neue Stellen geschaffen werden im Krankenhausbereich (“Sozialabkommen: 6 % mehr Lohn für das Pflegepersonal in Belgien”, Flanderninfo, 8. Juli 2020).

Gleichwohl gab es am 14. September eine Demo in Brüssel von Mitarbeitenden aus dem Krankenhausbereich, die weitere Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor fordern (“Demo in Brüssel: Plädoyer für eine bessere Finanzierung des Pflege- und Gesundheitswesens”, Flanderninfo, 14. September 2020).

Auch in Belgien wurde während des Lockdowns für die Pflegekräfte geklatscht – allabendlich um 20 Uhr. Im Unterschied zur Bundesrepublik blieb es aber nicht beim Klatschen, sondern es folgten die genannten Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern. Debatten, wie sie in der Bundesrepublik zu den Forderungen von Ver.di bezüglich Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor geführt werden (siehe: Der Spiegel vom 26.09.2020: Gewerkschaftsfunktionäre drohen mit Warnstreiks – Die Corona-Maulhelden von Ver.di), sind mir bisher in belgischen Medien nicht begegnet. Dass Arbeit fair und angemessen bezahlt werden muss – auch im Pflegesektor – ist in der belgischen Gesellschaft offenbar ein viel weitgehenderer Konsens als in der Bundesrepublik. Die gewerkschaftlich ausgehandelten Lohnerhöhung kommen im übrigen in Belgien noch zu der regelmäßigen etwa jährlich vorgenommen Lohnindexierung hinzu. Lohnindexierung meint die Anpassung der Löhne an die Preisentwicklung. Ein Blick nach Belgien zeigt: Es gibt Alternativen zur deutschen Leitkultur und zum deutschen Sozialstaat, die zwar auch nicht perfekt, aber deutlich besser sind.

Titelbild: Grenze Belgien | Foto: Jens-Olaf Walter CC BY-NC 2.0 via FlickR

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