Dieser Beitrag ist Teil einer kleinen Reihe auf Europablog, die den Krieg aus einer linken Sicht zu verstehen sucht und die zugleich nach möglichen Ansätzen für einen Ausweg aus diesem Krieg in einem europäischen sowie einem klima- und enrgiepolitischen Rahmen fragt.
Weitere Beiträger dieser Reihe sind:
„Putin im Bunker“ – Die imperialen Kulturkampfphantasien eines russischen Geopolitikers. Von Friedhelm Grützner (11.05.2022)
Von Bodo Ramelwo
Behutsamer Zwischenruf in eine laute Zeit (24. April 2022)
Was haben Transnistrien, das Kosovo, Katalonien und die Krim gemeinsam? Versuch einer Annäherung an ein ebenso komplexes wie drängendes Problem und warum ich gegen jedwede Form einseitiger bzw. gewaltsamer Grenzverschiebungen bin.
Am 22.04. zitierte der Tagesspiegel einen der mithin zentralen Akteure der russischen Streitkräfte, Generalmajor Rustam Minnekajew, mit folgenden Worten:
„>Die Kontrolle über den Süden der Ukraine, da ist noch ein Zugang zu Transnistrien<“, sagte Minnekajew. In der von der Republik Moldau abtrünnigen Region Transnistrien sind russische Truppen stationiert. Minnekajew deutete demnach an, dass auch dort die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung verteidigt werden sollen.“
Bei jedem, der sich mit der Transnistrien-Problematik (siehe einführend hier) intensiver beschäftigt hat, müssten nach solch einer Einlassung sämtliche Alarmglocken schrillen. Denn auf nichts weniger als eine mögliche Sezession weisen diese Äußerungen hin. Und letztere laufen – so meine Einschätzung – meist nach sehr ähnlichen Mustern ab. Genau darauf habe ich mahnend auch am 22. Februar 2022 bei „Ramelow direkt“ hingewiesen. Mir ging es deutlich um einen differenzierten Vergleich völkerrechtlicher Prozesse bei Sezessionen und in diesem Zusammenhang freilich auch um die Frage, warum mit der Abspaltung des Kosovo der Westen hier Maßstäbe gesetzt hat, die bis heute Wirkung entfalten. Es ging also keinesfalls um einen Vergleich oder gar eine Gleichsetzung der militärischen NATO-Intervention im Jugoslawien-Krieg mit dem Putin’schen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dass es natürlich zu der OAF-Intervention auch einiges zu sagen gäbe, ist eine andere Frage, aber darum ging es an jenem „Ramelow Direkt“-Abend gar nicht, obwohl hartnäckig etwas anderes in der Thüringer Allgemeinen (TA) behauptet und nun vom Thüringer SPD-Vorsitzenden unterstellt wurde.
Ich möchte deshalb heute noch einmal die vielfältigen völkerrechtlichen und politischen Probleme mit Blick auf Sezessionen – also Abspaltungen von Regionen oder Landesteilen aus bestehenden Staaten – genauer betrachten. Spaltet sich ein Staat, beispielsweise die Tschechoslowakische Republik, in zwei neue souveräne Staaten auf, ist das zunächst unproblematisch, wenn – wie im konkreten Fall geschehen – das Parlament dieses beschließt. Will aber der Mehrheitsstaat eine Sezession um jeden Preis verhindern, sind unabsehbare Konflikte, die sich zumeist kaskadenförmig entwickeln, beinahe vorprogrammiert.
Reden wir über diese problematische Form der Sezession – zumal dann, wenn sie mit eskalativen Gewaltanwendungen einhergeht – stehen uns zuvorderst die blutigen Zerfallsprozesse nach dem Ende Jugoslawiens oder der Sowjetunion vor Augen. Gern vergessen wir dabei allerdings, dass es sezessionistische Tendenzen, auch solche, die lange Zeit in Gewaltspiralen mündeten, ebenfalls in Westeuropa gab und gibt. Denken wir nur an Katalonien, das Baskenland, Nordirland, Schottland, (lange Zeit) Südtirol oder auch Belgien. Insbesondere die letzten beiden Fälle liefern uns jedoch auch spannende Hinweise darauf, wie verfahrene sezessionistische Problemlagen produktiv aufgelöst werden können. Obwohl es zwischen Flamen und Wallonen immer einmal wieder kriselt, wird Belgien als mehrsprachiger und multikultureller Staat vom Königshaus als verbindender Klammer zusammengehalten – und zwar offenkundig so erfolgreich, dass sich zwischen diesen Großgruppen auch noch die mehrheitlich deutschsprachige Region Ostbelgien einfinden kann.
Südtirol hat im italienischen Staat einen ähnlichen Weg der verbrieften und gelebten Autonomie beschritten. Auch dieses ist eine Entwicklung, die man vor wenigen Jahrzehnten kaum für möglich gehalten hätte. Das Bild von gesprengten Strommasten und Gewaltausbrüchen ist mittlerweile demjenigen einer ebenfalls bunten, friedlichen und erfolgreichen Region gewichen. Ich habe Südtirol in den letzten Jahren oft besucht und war immer wieder tief beeindruckt von dem gelassenen Stolz und der Ruhe der Menschen, die dort leben. Sie sprechen Deutsch und zumeist fließend Italienisch, besitzen einen italienischen Pass, verwalten sich selbst und betonen durch die Bank weg immer wieder, dass sie sich vorwiegend als Europäer begreifen. Gerade in diesem souveränen Bewusstsein der Entschieden- und Gelassenheit des geteilten Europäisch-Seins steckt meiner Meinung nach eine große Chance, von der wir alle viel lernen könnten. Trüber stellt sich die Lage gegenwärtig wieder einmal im irisch-nordirischen Verhältnis dar. Konnte hier zunächst nach jahrzehntelanger Kärrnerarbeit ein funktionaler Modus Vivendi gefunden werden, sind viele dieser Errungenschaften nach dem BREXIT bedauerlicherweise wieder infrage gestellt.
Selbstverständlich ist auch die Bundesrepublik Heimat verschiedener autochthoner Minderheiten. Die Friesen beispielsweise mussten lange dafür kämpfen als solche anerkannt zu werden. In den Gebieten Sachsens und Brandenburgs leben bis heute unsere sorbischen Mitbürger, die ihre slawische Sprache sprechen und Kultur leben. Besonders spannend gestaltet sich das Leben unserer dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Ganz selbstverständlich existieren dort dänische Schulen und über eine Sonderklausel des Wahlgesetzes ist die dänische Partei SSW von der 5%-Hürde befreit und kann somit im Landtag die Interessen der dänischen Minderheit angemessen vertreten. Bei der Bundestagswahl 2021 hat es sogar erstmals seit Jahrzehnte wieder ein Vertreter des SSW bis in den Bundestag geschafft.
Nun ist die Situation in Osteuropa nach dem russischen Überfall auf die Ukraine noch einmal in dramatischer Weise gekippt und vieles von dem, was Putin im Kontext der aktuellen Lage in den vergangenen Monaten tat, erinnert in frappierender Weise an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in die auch der Zusammenbruch der ehemals großen Imperien fällt. Als US-Präsident Woodrow Wilson im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges sein berühmtes 14-Punkte-Programm vorlegte, in dem unter anderem auch das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ einen Dreh-und Angelpunkt bildete, war das aus unterschiedlichen Gründen ein epochemachendes Ereignis. Wilsons Konzept – geboren aus dem Wunsch nach demokratischen Nationalstaaten – gelangte allerdings schnell an seine Grenzen – und zwar besonders in den ehemaligen Vielvölkerreichen, in denen es eine nicht eben geringe Zahl an Gemeinschaften gab, die sich als eigenständige „Völker“ begriffen und nunmehr auch folgerichtig nach eigenen Staaten strebten. Auf einmal bilden sich Nationalstaaten, die zwar immer von Souveränität geträumt hatten, nun aber feststellten, dass ihre Staatsgrenzen nicht unbedingt deckungsgleich mit den Sprach- oder im weitesten Sinne „Kultur“-Grenzen der jeweiligen Gemeinschaften waren. Und im Wahn nach dem ethnisch homogenen Nationalstaat standen sich plötzlich Menschen gegenüber, die mehrere Jahrhunderte lang – freilich mit Unterbrechungen – meist friedvoll miteinander gelebt hatten. Der Zerfall des Osmanischen Reiches, des Britischen Empire, von Habsburg oder dem Zarenreich – all diese Auflösungserscheinungen, auf die Spitze getrieben schließlich durch die kriegerischen und genozidalen Verbrechen des Nationalsozialismus und seiner Mordbrennerei in Europa, haben tiefe Spuren hinterlassen.
Bertha von Suttner beschrieb in ihrem eindrucksvollen Buch „Die Waffen nieder“ diesen vermeintlichen Patriotismus, den lauten und aggressiven Nationalismus, mit dem die „Männer“ in den Krieg zogen – immer mit der Hoffnung, gesund und selbstverständlich siegreich zurückzukehren. Ich bekam das Buch gerade wieder in die Hände und verschlinge es regelrecht. Es ist so dicht an dem, was sich bei mir als Gefühl gerade breit macht. Die grausame Erfüllung ihrer Prophezeiungen musste Bertha von Suttner nicht mehr miterleben. Sie starb vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Den Patriotismus und die Jubelschreie, die schließlich in den Stellungskriegen und Materialschlachten an der Somme verreckten, sah sie nicht mehr. Gotha ist mit ihr eng verbunden. Dort steht ihre Urne, denn sie sorgte für die erste Feuerbestattung und deshalb wird ihr in Gotha so intensiv gedacht. Immerhin ist sie die erste Friedensnobelpreisträgerin.
Wenn wir das 20. Jahrhundert heute als das Jahrhundert der „ethnischen Säuberungen“ bezeichnen (freilich eine Verniedlichung, ging es hierbei doch nicht selten um Massenmord, Zwangsumsiedlungen und brutalste Repressionen), liegt einer der Gründe hierfür in der ambivalenten Dynamik, die in Wilsons Konzeption von Anfang an eingebaut war. Und wenn wir ehrlich sind, zeigen die aktuellen Ereignisse und vor allem auch Putins „Argumente“ zur Begründung seines völkerrechtswidrigen Überfalls, dass wir dieses unheilvolle Kapitel des letzten Jahrhunderts noch nicht zugeschlagen haben.
Wenn ich also seit Wochen das Thema Transnistrien auf die Agenda setze, hängt das mit solchen „eingefrorenen“ Konflikten von Siedlungsminderheiten in größeren Staatsgebilden zusammen und wenn deren „Befreiung“ nun zum Kriegsziel erklärt wird, dann wiederholt sich etwas, wovor ich immer wieder gewarnt habe. Die Sezession der Krim nach einer Annexion durch die russische Arme, die „Beistandsverträge“, die Putin demonstrativ unmittelbar vor dem Überfall auf die Ukraine unterzeichnet hat – all das wirkt wie ein Ruf aus überwunden geglaubten Zeiten, die ich weiter oben kurz schilderte.
In der aktuellen Debatte wird sehr schnell mit martialischen und vor allem lauten Tönen und Sprachbildern argumentiert. Da ist häufig wenig Platz für behutsames Abwägen und Debattieren. Gehen wir wieder einen Schritt zurück in die Geschichte.
Es waren die leisen und eindringlichen Töne von Willy Brandt und Egon Bahr, die nicht nur im harten Wind des „Kalten Krieges“ Türen geöffnet und Prozesse in Bewegung gebracht haben. Es würde mehr denn je lohnen, wieder einmal die Rede Brandts anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis zur Hand zu nehmen. Er entfaltete die Vision einer Welt, in der Krieg als Ultima Irratio geächtet würde. Ihm schwebte aber gleichzeitig nicht etwa ein blauäugiger und realitätsferner Pazifismus vor, sondern eine Friedens-, Beistands- und Vertragsgemeinschaft. Frieden und Abrüstung sollten die Grundlage für mehr Sicherheit – auch in konkurrierenden Machtsystemen – bilden. Diesen Ansatz halte ich auch heute noch für eine wichtige Richtschnur. Frieden und Abrüstung, aber auch einen Atomwaffenverzicht, um das Ziel einer atomwaffenfreien Welt überhaupt denkbar zu machen sind keine verstaubten Überbleibsel des 20. Jahrhunderts.
Mich verwundert es daher umso mehr, wenn der Landesvorsitzende der SPD Thüringen im TA-Interview erklärt: „Wandel durch Handel: Das war eine Illusion“. Mit dieser Positionierung entsorgt man das Erbe eines großen Sozialdemokraten, der sogar in Thüringen geboren wurde: Egon Bahr. Er hat die Grundlagen für die „Neue Ostpolitik“ mit seinem Konzept „Wandel durch Annäherung“ erst ermöglicht – und zwar in einer Zeit, in der er dafür heftig beschimpft und angegriffen wurde, ja, man sogar noch den Vorwurf des „vaterlandslosen Gesellen“ aus der Schublade kramte. Bahr hat sich nicht beirren lassen und mit seinem Denken und Handeln die Welt nachhaltig verändert (siehe hierzu besonders auch den kleinen Artikel des Deutschlandfunk zum Thema).
Heute sitzen zwei Menschen aus dem Westen gemeinsam im Kabinett der Thüringer Landesregierung und tragen zusammen Verantwortung für unser Bundesland – der Ministerpräsident und sein Stellvertreter. Aber das könnten sie gar nicht, wenn die Formel vom „Wandel durch Annäherung“ Illusion gewesen wäre. Es überrascht mich, mich nunmehr in einer Rolle zu finden, in der ausgerechnet ich dieses sozialdemokratische Erbe verteidigen muss. Bei alldem steht für mich der Fakt, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine – vielleicht sogar bald gegen Moldau – betreibt, vollkommen außer Frage. Das ist die Realität. Immerhin ist Transnistrien nicht ganz alleine. Es ist Gründungsmitglied der Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten, zu denen die ebenfalls umstrittenen Regionen Arzach, Abchasien und Südossetien gehören, welche sich wechselseitig in ihren jeweiligen Souveränitätsbestrebungen unterstützen. Das sind alles offene Konflikte und wir sollten wenigstens wissen, warum die Ukraine nicht isoliert betrachtet werden kann.
Was aber kann ein Lösungsansatz nach einem Ende des jetzigen Krieges sein? Jedenfalls ist auch die Region des zerfallenen Jugoslawien noch längst nicht befriedet. Wenn die Ukraine, Serbien und mit ihm andere Staaten Mitglieder der EU werden sollen, wird noch manches dicke Brett zu bohren sein – das betrifft natürlich auch Fragen nach Sprachen- und Religionsregelungen, die Bausteine eines festen Minderheitenschutzes sein müssen.Was als Begründung zur Sezession des Kosovo von vielen (nicht allen) europäischen Staaten akzeptiert wurde – nämlich das Sprechen der albanischen Sprache und die Anerkennung des muslimischen Glaubens – muss freilich grundsätzlich gelten. Das Völkerrecht kennt hier völlig zurecht keine doppelten Standards.
Ein probates Mittel gegen Sezessionen (Transnistrien, Donezk, Luhansk und der Krim) könnte ein gut funktionierender föderaler Staat sein. Dieses Modell – freilich modifiziert und angepasst an die je eigenen Gemengelagen vor Ort – könnte in Serbien, Spanien, der Ukraine oder Moldau angewandt werden. Autonomie in einem föderalen System bei Akzeptanz von religiöser und sprachlicher Vielfalt, aber eingebettet in ein Europa der Vertragspartnerschaft, mit funktionierenden Strukturen, die auf dem KSZE-Prozess aufbauen; europäische Länder mit gut ausgerüsteten Landverteidigungsarmeen, die jeweils eine Nichtangriffs-und Beistandspflicht vereinbaren; wechselseite Kontrollen und eine Abrüstungspolitik, die ein atomwaffenfreies Europa zum Ziel hat.
Man mag mich einen Träumer nennen, aber ich bin immer noch Realist genug, um Tod und Vernichtung durch Krieg und Aggression in seinen sehr beängstigend greifbaren Ausprägungen zu erkennen. Bertha von Suttner bezeichnete „den Krieg als Folge menschlichen Irrwahns“ und Frieden als „naturrechtlichen Normalzustand“. Und ich bleibe dabei: eine Maßnahme, um das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden, kann der Entzug der im Ausland gebunkerten Oligarchenvermögen sein (1,3 Billionen US- Dollar). Deutschland hat sich bislang dabei nicht mit Ruhm bekleckert. Wer auf der einen Seite nach der Lieferung schwerer Waffen ruft, kann auf der anderen Seite meiner Meinung nach nicht ernsthaft daran festhalten, die Kontrollen von „blutigen“ Kapitalflüssen nach und aus Deutschland so lax zu gestalten, dass die Bundesrepublik bis heute als ein Eldorado für solche kriminellen Machenschaften dient. An dieser Stelle setzen sich mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen für einen schnellen Wandel ein, den ich nur unterstützen kann.
Enden möchte ich mit der bereits zitierten Bertha von Suttner: „Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden.“
Angegriffene müssen sich verteidigen können (10. Mai 1022)
Wer sich lange genug in der politischen Arena bewegt, der entwickelt irgendwann auch ein Gespür für bestimmte Gesetzmäßigkeiten. Eine davon ist beispielsweise diejenige, die besagt, dass Überschriften von Interviews, die man gibt, recht häufig nur sehr punktuell die Differenziertheit eines Gespräches wiederzugeben vermögen. In der vergangenen Woche sprach ich beispielsweise mit dem Evangelischen Pressedienst über den Krieg in der Ukraine und die Frage nach Waffenlieferungen. Schnell wurde verschiedentlich ein sehr facetten- und nuancenreichen Gespräch in knallige Einzeiler gepresst – „Schwere Waffen für Ukraine: Ramelow für Lieferungen aus Deutschland“ oder gar „Ramelows Ja zu Waffen spaltet“ usw. usf.
Das gehört freilich zum Geschäft und in Zeiten von Clickzahlen und quantifizierbarer Aufmerksamkeitsökonomie verstärken sich derartige Trends noch.
Jenseits der Schlagzeile muss dann allerdings Raum für die notwendige Differenziertheit – zumal bei einem solch existenziellen Thema – bleiben. Um es klar zu sagen: Grundsätzlich bin ich gegen Waffenlieferungen – und zwar nirgendwohin. Ich wäre sogar für ein gesetzliches Verbot derselben und unterstütze seit Jahrzehnten den Kampf für eine atomwaffenfreie Welt.
Aber solange weder das eine noch das andere zur Umsetzung gelangt ist, ja, es sogar Staaten gibt, die sich systematisch diesem Streben entziehen, muss ich genauso wie wir alle bestimmte Realitäten zur Kenntnis nehmen und auch anerkennen. Und eine dieser Realitäten ist, dass die deutsche Firma Rheinmetall als einer der größten Waffenexporteure der Welt auch Russland mit modernster Waffentechnik für rund 100Millionen € zum gezielten Training an Panzern versorgt und russische Armeeangehörige (Panzerbesatzungen) sogar an ihr ausgebildet hat – „Erfahrungsaustausch“ und „Wertetransfer“ nannte man das damals.
Deutschland ist eines der größten Waffenexportländer der Welt und deshalb könnte man zugespitzt sagen, auch deutsche Exporte haben ihren Teil dazu beigetragen, dass der russische Aggressor überhaupt angriffsbereit werden konnte.
Diejenigen, die heute dem Angegriffenen – also der Ukraine – verweigern wollen, sich in Deutschland Waffen zur Verteidigung ihres Staatsgebietes zu beschaffen, obgleich die Seite des Angreifers schon aus Deutschland versorgt wurde, argumentieren m.E. zynisch und entlang doppelter Standards. Können wir uns wirklich erlauben, erst einen Aggressor hochzurüsten, um dann – wenn derselbe plötzlich seine Expansionsgelüste an einem Nachbarn auslässt – die Hände hochzureißen und so tun als ginge uns das nichts an? Das halte ich weder außenpolitisch noch ethisch für einen gangbaren Weg. Als angegriffenem Staat räumt das Völkerrecht der Ukraine das umfassende Recht auf Selbstverteidigung gegen denjenigen ein, der das Völkerrecht brach – nämlich Putin. Auch gerade deswegen muss es der Ukraine möglich sein, auch in Deutschland Waffen für die Abwehr des russischen Angriffs zu beschaffen. Den rechtlichen Rahmen dafür setzen das Völkerrecht und das Kriegswaffenkontrollgesetz, welches eine Genehmigung der Bundesregierung bei der Ausfuhr von Kriegswaffen vorsieht. Auch der Bundestag ist bereits verschiedentlich mit der Thematik befasst gewesen. Hier steht die Bundesregierung in der Pflicht eine ausgewogene und überlegte Entscheidung zu treffen.
Anders wäre die Lage freilich, würden wir Waffen aus den Beständen der Bundeswehr liefern. Dass Kanzler Scholz hier besonders behutsam abwägen muss, wann die Bundesrepublik formell Teil eines Krieges wird – mit allen weitreichenden Konsequenzen – halte ich nicht etwa für behäbig, sondern dem Ernst der Lage für mehr als angemessen. Das habe ich auch in einem Interview mit der Berliner Zeitung unlängst noch einmal herausgestrichen. Darum – und um nichts Anderes – muss es dieser Tage gehen: Solidarität mit den Angegriffenen, Augenmaß bei allen Entscheidungen, die Waffenlieferungen betreffen sowie die Mitarbeit an diplomatischen und internationalen Versuchen, das Blutvergießen Putins zu stoppen.
Links:
Zum Nachlesen mein Interview mit der Berliner Zeitung sowie der Artikel des EPD.
Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) hat sich kürzlich zu dem Krieg Russlands gegen die Ukraine geäußert. Die vorstehenden Einschätzungen von Bodo Ramelow erschienen ursprünglich am 24. April und 10. Mai 2022 auf seinem Online-Tagebuch. Die erneute Veröffentlichung auf Europablog erfolgt mit Zustimmung des Autors.
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