Obwohl Europa weltweit das letzte Bollwerk demokratischer Werte sein könnte, nachdem die USA und Russland diese abgelehnt haben, untergräbt es seine moralische Autorität, indem es die Gewalt Israels gegen die Palästinenser ignoriert, findet Ilja Leonard Pfeijffer. „Auch wer sechs Millionen Mal ermordet wurde, hat nicht das Recht zu töten.“

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 18. Mai 2025

Es geschah während der Zeit, als das Virus die Welt heimgesucht hatte, im Juni des Jahres 2020. Ich wurde von Nathalie Huigsloot für die niederländische Zeitschrift HP/De Tijd zusammen mit meinen niederländischen Kollegen Marjon van Royen und Pieter Waterdrinker über Zoom interviewt. Sie befand sich in Rio de Janeiro, er lebte damals noch in Sankt Petersburg und ich loggte mich aus Genua ein. Die Idee war, darüber zu sprechen, wie sich die Pandemie in drei besonders schwer betroffenen Ländern auswirkt.

Was mir aber am meisten von diesem Gespräch in Erinnerung geblieben ist, ist der Moment, als die politische Lage zur Sprache kam. Donald Trump war im vierten Jahr seiner ersten Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten, Wladimir Putin war zwei Jahre zuvor zum vierten Mal zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt worden und Brasilien wurde von Jair Bolsonaro regiert. Marjon van Royen brach unerwartet in einen emotionalen Appell an Europa aus, bei dem ich das Gefühl hatte, sie würde mich durch die Zoom-Bildschirme hindurch am Kragen packen, um mich wachzurütteln.

„Ihr in Europa seid die Letzten“, sagte sie, “die Letzten auf der Erde, die den Glauben an Demokratie, Recht und Freiheit am Leben erhalten. Ihr habt keine Ahnung, wie wichtig das für den Rest der Welt ist. Ich flehe euch an, euch bewusst zu machen, dass ihr in Europa die Hoffnung von Milliarden Menschen verkörpert. Ich flehe euch an, durchzuhalten und die Demokratie und den Rechtsstaat mit aller Kraft zu verteidigen.“

Ungekannter Schock

Inzwischen ist die russische Armee auf Befehl Putins am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert, und Trump hat nach vier Jahren Biden seine zweite Amtszeit angetreten. Auf dem europäischen Kontinent wütet ein Krieg, und von der amerikanischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist nach 117 Tagen Trump kaum noch etwas übrig. Mindestens ebenso wichtig ist die Tatsache, dass Europa die Vereinigten Staaten nicht mehr als verlässlichen Verbündeten betrachten kann.

Was Trump mit Putin gemeinsam hat, ist der Glaube an die Bedeutungslosigkeit des Prinzips der Gerechtigkeit, das als dem Eigeninteresse untergeordnet betrachtet wird, und der Glaube an das Recht des Stärkeren. Die Sympathie für Putin, die Trump in den letzten Monaten wiederholt bekundet hat, wird von Europa zu Recht als Verrat an der einst so engen Allianz und an den moralischen Grundsätzen, auf denen sie beruhte, interpretiert.

„Der Vorwurf des Antisemitismus ist der Joker, den die israelische Propaganda einsetzt, um jede Kritik zu delegitimieren.“

Der deutsche Staatschef, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, sprach am 8. Mai dieses Jahres anlässlich des 80. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs von einer neuen Ära. Putins Einmarsch in die Ukraine bezeichnete er als einen beispiellosen Schock. „Die Befreier von Auschwitz sind die neuen Aggressoren.“

Mindestens ebenso schockierend sei jedoch, dass die Vereinigten Staaten offenbar keinen Wert mehr auf die internationale Rechtsordnung legten. „Die internationale Gemeinschaft hatte Konsequenzen aus dem Vernichtungskrieg und dem Völkermord gezogen“, sagte er.

„Sie hatte Regeln eingeführt, um Nationalismus einzudämmen und Zusammenarbeit zu fördern, und sie hatte eine internationale Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts geschaffen. Das war alles bei weitem nicht perfekt und immer umstritten, aber dass sich nun ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die diese Ordnung geschaffen und gestaltet haben, davon abwenden, ist eine Erschütterung von bisher unbekanntem Ausmaß. Deshalb spreche ich von einer doppelten Wende, bestehend aus dem russischen Angriffskrieg und dem Bruch der USA mit Werten und Normen, der das Ende des langen 20. Jahrhunderts markiert.“

Das Gefühl, dass Europa jetzt auf sich allein gestellt ist, hat sich in weiten Kreisen verbreitet, ebenso wie die Erkenntnis, dass die Europäische Union rasch zu einer globalen Supermacht umgestaltet werden muss. Frankreich und Großbritannien stehen als Initiatoren und Stützen der „Koalition der Willigen“, die die Ukraine unterstützt, an der Spitze der bislang zähen Bemühungen, Europa so schnell wie möglich militärisch zu einem vollwertigen Akteur zu machen.

Europäische Staats- und Regierungschefs sowie Diplomaten haben mit Spannung die Amtseinführung von Friedrich Merz als neuen deutschen Bundeskanzler erwartet, der der deutsch-französischen Achse Europas nach einer Phase unwilliger Zurückhaltung unter Olaf Scholz und nach langwierigen Koalitionsverhandlungen neuen Schwung und Durchsetzungskraft verleihen soll. Sein Fehlstart bei der Vertrauensabstimmung im Bundestag war hoffentlich ein Ausrutscher, der wohl dadurch überblendet wird, dass er an seinem ersten Arbeitstag nach Paris und Warschau flog und anschließend die EU-Spitzen und die NATO besuchte.

Klingeln in den Ohren

Aber ich höre noch immer das Echo des emotionalen Appells von Marjon van Royen in meinen Ohren. Die Aufgabe Europas besteht nicht nur in einem militärischen Wiederaufbau und in der Wahrung und Festigung der Einheit, sondern auch und vor allem in dem Begreifen dessen, dass der Kontinent eine Vorbildfunktion für den Rest der Welt erfüllen kann und muss. Jetzt, da sich die Vereinigten Staaten als Hüter der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der internationalen Rechtsordnung im Eiltempo zurückziehen, ist diese Position vakant, und es gibt weltweit keinen anderen Kandidaten als Europa, der diese Rolle überzeugend übernehmen könnte. Europa muss sich die moralische Autorität als Hüter der Grundsätze der Gleichheit und Gerechtigkeit erarbeiten.

Doch dabei gibt es ein alles überragendes Hindernis, nämlich die europäische Unterstützung für Israel. Europa ist als moralischer Maßstab und als globaler Bewahrer des Rechts völlig unglaubwürdig, solange es den Völkermord an den Palästinensern nicht in aller Deutlichkeit verurteilt und Konsequenzen aus dieser Verurteilung zieht.

Selbst wenn dies morgen geschähe, wäre es zu spät, denn die systematische Unterdrückung der Palästinenser, der rassistische Apartheidstaat, den Israel de facto errichtet hat, die verbrecherische Siedlungspolitik und die wiederholten Verstöße Israels gegen das Völkerrecht und gegen UN-Resolutionen forderten schon lange vor dem 7. Oktober 2023 eine scharfe Verurteilung, und die systematische Auslöschung und Vernichtung des palästinensischen Volkes dauert seit dem 7. Oktober 2023 bereits 588 höllische Tage an.

Geschieht dies nicht, bleibt Europa mitverantwortlich für einen Völkermord und kann in keiner Weise Anspruch auf irgendeine moralische Autorität erheben. Wir haben es gesehen, als wir nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine weltweit Unterstützung für unsere Verurteilung Russlands suchten: Der globale Süden warf uns zu Recht Heuchelei vor, da wir Unterstützung für die Verurteilung eines Aggressors suchten, während wir dem israelischen Aggressor keinen Finger krümmen wollten. Die Verurteilung Israels, die unsere zuvorderste moralische Pflicht ist, dient langfristig auch einem strategischen Interesse, denn kompromisslose Verfechter der Gerechtigkeit finden auf Dauer mehr Freunde, oder zumindest die richtigen Freunde.

Heuchelei

Die Argumente, die immer wieder gegen die Verurteilung Israels vorgebracht werden, sind Trugschlüsse. Kritik am Staat Israel hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Es ist nicht antisemitisch, das mörderische israelische Regime anzuklagen. Der Vorwurf des Antisemitismus ist der Joker, den die israelische Propaganda einsetzt, um jede Form von Kritik zu delegitimieren. Kritik an Israel hat ebenso wenig mit Holocaustleugnung zu tun. Das historische Leid des jüdischen Volkes ist kein Freifahrtschein für die israelische Regierung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Auch wer sechs Millionen Mal ermordet wurde, hat nicht das Recht zu morden.

Das Recht auf Selbstverteidigung, das Israel für sich beansprucht, ist rechtlich problematisch, da Palästina von den Ländern, die dieses Recht auf Selbstverteidigung geltend machen, nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird und da die Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung eine Leugnung der Tatsache impliziert, dass der Gazastreifen von Israel besetzt ist.

Es ist zudem eine Farce, den Palästinensern dasselbe Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen und palästinensische Freiheitskämpfer als Terroristen zu bezeichnen. Vor allem aber steht das gewaltsame Vorgehen Israels in keiner Weise im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der das Recht auf Selbstverteidigung einschränkt. Die systematische Auslöschung des palästinensischen Volkes kann nicht mit dem heuchlerischen Begriff der Selbstverteidigung gerechtfertigt werden.

Die Vorstellung, wir müssten mit dem einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten behutsam umgehen, impliziert eine perverse Leugnung der Tatsache, dass kein Land, das die Rechtsstaatlichkeit und grundlegende Menschenrechte mit Füßen tritt, als Demokratie bezeichnet werden kann. Der Vorwurf, es sei ein Zeichen selektiver Empörung, Israel zu verurteilen, während wir keinen Finger für die Opfer in Syrien, Jemen und Sudan rühren, ist ebenfalls ein Trugschluss.

Es ist ein Versäumnis, anderen Opfern in anderen Teilen der Welt nicht beizustehen, aber ein begangener Fehler darf nicht als Entschuldigung dafür missbraucht werden, noch mehr Fehler zu begehen. Das von unseren Regierungschefs oft mit besorgter Stimme vorgebrachte Argument, es sei effektiver, hinter den Kulissen über diplomatische Kanäle Einfluss auf die israelische Politik zu nehmen, statt wütend alle Beziehungen abzubrechen, wird durch die mörderische Realität auf eklatante Weise widerlegt.

Wie bereits gesagt, ist es für Europa mittlerweile reichlich spät, eine entschiedene Haltung gegenüber Israel einzunehmen, aber es wäre ein unauslöschlicher Schandfleck für unser Ansehen und unser Gewissen, dies nicht zu tun. Jeder Tag, an dem wir Israel explizit oder implizit weiterhin unterstützen, ist ein Tag, an dem wir unsere Glaubwürdigkeit gegenüber der Welt und der Geschichte verspielen.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 17. Mai 2025 unter dem Titel ‘Ook wie zes miljoen keer is vermoord, heeft het recht niet om te moorden’ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild: Pro-palästinensische Demonstration im Zentrum von Brüssel, 16. Mai 205, Jürgen Klute, CC BY-NC-SA 4.0

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Foto: Stephan Vanfleteren

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