Von Frederik D. Tunnat
Wir leben aktuell in einer überaus reaktionären Phase. Imperialismus in der Politik und Sozial-Darwinismus in gesellschaftlich-ökonomischem Kontext sind in einem Ausmaß zurück und an der Tagesordnung, das an ihre schlimmsten Auswüchse im 19. Jahrhundert erinnert. Epizentrum sind, wie seinerzeit, die USA, doch Deutschland lässt sich auch nicht lumpen.
Damals wie heute unternahmen die Besitzer von Industrie und Wirtschaftsunternehmen alles in ihrer Macht stehende, um sowohl massiven Einfluss auf die Politik zu nehmen, sowie die erstarkende Arbeitnehmerschaft daran zu hindern, zu einem annähernd gleichberechtigtem Verhandlungspartner in Fragen der Entlohnung und sozialer Standards zu werden.
Während im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Arbeiterbewegung an Fahrt aufnahm, sich Gewerkschaften bildeten um die Interessen der Lohnabhängigen zu vertreten, stehen wir gegenwärtig vor den Trümmern der zwischenzeitig mächtigen, mitgliederstarken Arbeitnehmervertretungen. Binnen der letzten 60 Jahre, seit Beginn der 1960er Jahre, gelang es den sog. wirtschaftsliberalen Kräften, ausgehend von den USA, das zu ihren Ungunsten verrückte Pendel massiv zu ihren Gunsten zu verschieben. Ihr Kampf gegen die Gewerkschaften war überaus „erfolgreich“. In sämtlichen westlichen Industrieländern wurden Gewerkschaften marginalisiert, sind traurige Schatten ihrer selbst. Der Organisationsgrad der Arbeitnehmer, der 1960 bei stolzen 34,2% lag (in West-Deutschland), ist bis 2022 auf läppische 13 % gesunken (DGB inklusive IG Metall und Ver.di). Da in den Zahlen auch jene Gewerkschaftsmitglieder enthalten sind, die sich im Ruhestand befinden, sprich gar nicht zur arbeitenden Bevölkerung gehören, jedoch noch aus jener Phase der hohen gewerkschaftlichen Organisation stammen, kann realistisch von höchstens 9-10% Gewerkschaftsmitgliedern ausgegangen werden, die aktuell in Brot und Arbeit sind. Allein diese beiden Zahlen: damals über 34% und heute ungefähr 9% zeigt auf beängstigende Weise, wie ungemein „erfolgreich“ die Arbeitgeber mit ihrem Kampf gegen ihre Arbeitnehmer und deren Interessenvertretungen waren. Sie haben die Organisation der Arbeitnehmer marginalisiert, ihre eigene Verhandlungsposition und Macht überproportional erweitert, zurück erobert.
Unorganisiert, zu einem Teil arbeitslos gehalten, zu einem weiteren Teil in moderner Lohnsklaverei (Zeitarbeit), ist es den Arbeitgebern der westlichen Industrieländer heute wieder möglich, die Löhne und Gehälter samt der Arbeitskonditionen zu diktieren, ohne diese mit machtvollen Gewerkschaften aushandeln zu müssen. Dank ihres Machtzuwachses gelang es den Arbeitgebern, d.h. den vermögenden Besitzern und Aktionären, die Löhne und Gehälter auf das Niveau von vor rund 30 Jahren, also zur Zeit kurz nach der Wiedervereinigung zu drücken.
Wer 1991 beispielsweise im damaligen Niedriglohnsektor 1500 DM pro Monat verdiente, wird heute mit knapp 1500 Euro abgespeist. Das deckt zwar in etwa die Inflationsrate laut offizieller Statistik, bedeutet jedoch andererseits, dass keinerlei Lohnsteigerung über 30 Jahre erfolgte. Demgegenüber haben allein leitende Angestellte, also Menschen, die als Manager für Besitzende und Erben Konzerne und Firmen leiten, ihre Jahreseinkommen vom ca. 220ig fachen des durchschnittlichen Angestellteneinkommens auf inzwischen das 500 bis 600fache gesteigert. Die eingesparten Löhne und Gehälter der kurz gehaltenen Mitarbeiter einschließlich der seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr zu zahlenden Erbschafts- und Vermögenssteuer haben die Vermögen der Besitzenden, Erben und aktiven Unternehmer um bis zu 3500 % explodieren lassen. Mit dem Effekt, dass die Anzahl der Multimillionäre und Milliardäre sich seit 1990 verfünffacht hat, während sich die Anzahl der Armutsbetroffenen verdoppelt bis verdreifachte.
In dieser grob skizzierten aktuellen Situation, diskutieren alle Parteien, unsere Politiker, die zu erheblichem Teil indirekt wie direkt auf der Gehaltsliste der Vermögenden und ihrer Lobbyisten stehen, allen Ernstes, dass es opportun und angemessen wäre, Menschen die Bürgergeld beziehen (die freundliche Umschreibung für Hartz IV), künftig eine sog. Arbeitspflicht aufzuzwingen, sprich, irgendwie und für irgendwen als Gegenleistung für die Sozialleistung „Ein-Euro-Jobs“ zu leisten.
Bevor ich die unermüdlichen Bemühungen unserer Politiker und Parteien angemessen „würdige“, Bürgergeldbezieher zu erniedrigen und auszubeuten, sollte der Begriff „Ein-Euro-Job“ erläutert werden, um zu verstehen, worüber wir dabei sprechen.
So prangerte der Bundesrechnungshof bereits per 15.11. 2010, also vor 14 Jahren Ein-Euro-Jobs an. Die so genannten Ein-Euro-Jobs würden den meisten Langzeitarbeitslosen nicht helfen, eine feste Arbeit zu bekommen, bestätigte der Bundesrechnungshof. Er monierte, Kommunen, Wohlfahrtsverbände und Unternehmen nutzen Ein-Euro-Jobber, um ungeförderte Tätigkeiten im ersten Arbeitsmarkt zu ersetzen um ihre Personalkosten zu reduzieren. Noch dramatischer: Mehr als der Hälfte der Jobs dürfte gar nicht gefördert werden, weil sie keine zusätzliche Tätigkeit im Interesse der Allgemeinheit seien bzw. in Konkurrenz zu ungeförderten Unternehmen standen.
Das brachte die FDP erstaunlicherweise im Jahr 2013 dazu, in einer gemeinsamen Aktion mit der Linken die ersatzlose Abschaffung der Ein-Euro-Jobs zu fordern! Das hinderte den derzeitigen FDP Vorsitzenden und bisherigen Finanzminister jedoch nicht, 2024 vehement die Wiedereinführung zu fordern, mit der vom Bundesrechnungshof 2010 widerlegten Begründung, diese Art von Jobs seien eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt. Eben das hat nicht bloß der Bundesrechnungshof eindrucksvoll als Fake nachgewiesen; selbst das zur Bundesagentur für Arbeit gehörige Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt in einer aktuellen Untersuchung zum Ergebnis, die Forderung nach genereller Arbeitspflicht sei nicht angemessen. Joachim Wolf, der verantwortliche Studienleiter, erklärte, Ein-Euro-Jobs seien nur für Personen geeignet, die sonst nicht bereit seien, Arbeit aufzunehmen. Wer dagegen aktiv nach Arbeit suche, würde durch die Zwangsmaßnahme von der Suche abgehalten. Dennoch fordern die Sozial-Darwinisten in Politik und Unternehmerschaft unverdrossen diese nachweislich ungeeignete Maßnahme zur weiteren Disziplinierung potentieller Lohnsklaven.
Am 23.01.2013 schrieb Der Spiegel: „In einer Frage sind sich FDP und Linke einig: Die Ein-Euro-Jobs müssen weg. Das Instrument aus der Zeit der Hartz-Reformen entwerte die Leistung von Arbeitslosen und bringe Handwerker um ihre Aufträge“. Das sieht Herr Lindner, FDP, aktuell ganz anders. Für ihn ist es eine Brücke in den offiziellen Arbeitsmarkt, trotz inzwischen anderthalb Jahrzehnten gegensätzlicher Ergebnisse, sowohl von der Arbeitsagentur selbst, als des Rüffels durch den Bundesrechnungshof. Doch den ignorieren Politiker eh immerzu.
Dass Lindner und Co, also die Politiker nahezu aller Parteien, außer den Linken, zwei richtungsweisende Urteile des Bundessozialgerichts, gesprochen im Jahr 2011, nach wie vor ignorieren, fällt bereits unter den Begriff: unverschämt. So fällte das Bundessozialgericht am 13.04.2011 zwei richtungweisende Urteile, die in der Praxis das Aus für „Arbeitsgelegenheiten bzw. so genannte 1-Euro-Jobs“ hätten bedeuten müssen ( B 14 AS 98/10 R; B 14 AS 101/10 R). Wenn das Jobcenter nicht nachweisen kann, dass die ausgeübte Arbeitsgelegenheit (1-Euro- Job) wirklich „zusätzlich“ ist, steht dem ALG II-Empfänger gegen das Jobcenter ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu. Die Behörde muss dem ALG II–Empfänger dann in der Regel den üblichen Tariflohn nachzahlen. Für das Jobcenter dürfte die Vergabe von „1-Euro-Jobs“ znach diesem Urteil u einem teuren Bumerang und hohen finanziellen Risiko geworden sein, da das Merkmal der Zusätzlichkeit nur auf die wenigsten Arbeitsgelegenheiten zutrifft. Mit anderen Worten: Hartz-IV-Empfänger, die zu Unrecht als Ein-Euro-Jobber eingesetzt werden, können für die geleistete Arbeit den ortsüblichen Lohn verlangen. Das BSG gab damit einer Frau Recht, die in einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt putzen musste, statt für 10 für einen Euro. Künftig werden die Jobcenter bei der Prüfung der so genannten Arbeitsgelegenheiten noch genauer hinschauen müssen, oder die nunmehr offerierten Ein-Euro-Jobs sind derart überflüssig und absolut nicht für die Delinquenten förderlich, dass sie einer reinen Willkür oder Strafmaßnahme gleichen.
All das ficht die Vertreter einer sozial-darwinistischen Weltsicht naturgemäß nicht im Mindesten an. Für sie sind Empfänger staatlicher Sozialleistungen mit einer Stahlbürste gegen den Strich zu bürsten, während sie die Besitzenden und Vermögenden gar nicht weich genug auf Rosenblättern und Seide betten können. Dennoch wird neuerlich eine gespenstische Diskussion geführt, vornehmlich, um neben der Migrationsdebatte, jegliche Beschäftigung mit der Änderung von Erbschafts- und Vermögenssteuer bis nach der Wahl unter den Teppich kehren zu können. Tatsächlich ist das Engagement der Parteien und Politiker in Sachen Erweiterung der Steuerbasis merkwürdig unterentwickelt, wenn es darum geht, den sehr Vermögenden 1 oder 2% ihrer unermesslichen Vermögen zu entziehen. Da wird dann lieber, ausgerechnet vom Grünen Habeck, die irrwitzige Idee ins Spiel gebracht, denjenigen Arbeitnehmern, die kapiert haben, dass ihre künftige Rente nur für die Obdachlosigkeit reicht, und deshalb in Aktien und Geldanlage investieren, zusätzlich zur Abgeltungssteuer und zum Soli, also den ohnehin bereits 32,5% Steuern noch obendrauf eine Steuerabgabe für Kranken- und Pflegeversicherung zu drücken. Damit können Habeck und alle Parteien die Vermögenden in Frieden und im vollständigen Besitz ihrer Besitztümer belassen. Das trägt sicher ungemein zum sozialen Frieden in diesem unserem Lande bei. Amen.
Titelbild: jwhor CC BY-NC 2.0 DEED via FlickR
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