Jiří Silný
Jahrgang 1951, arbeitete als Pfarrer, Leiter einer NGO, Übersetzer, Journalist. Aktuell als Projektkoordinator für die Rosa Luxemburg Stiftung in Prag.
Foto: privat
Interview: Jürgen Klute
Europa.blog: Jiří, kannst du zunächst einmal einen kurzen Überblick zum Wahlergebnis in Tschechien geben und eine kruze Einordnung des Ergenbisses vornehmen?
Jiří Silný: Die Wahlen für das Parlament fanden am ordentlichen Termin, am 20. und 21. Oktober statt. Die Wahlbeteiligung war wieder niedrig (60,84 %) und der Anteil der gewählten Frauen ist wieder sehr klein (22 %).
Die Ergebnisse der Wahlen entsprechen der Tendenz, die sich nicht nur in Tschechien schon seit längerer Zeit manifestiert. Die traditionellen Parteien, vor allem die linken, verlieren an Rechtspopulisten. In Tschechien ist die Schnelligkeit und das Ausmass der Veränderungen und die Zerspliterung der Parteilandschaft überraschend.
Der Verfall der etablierten Parteien, vor allem der Linken ist dramatisch. Wenn man die 140 Jahre alte Sozialdemokratische Partei (7,27 %) und die Kommunisntische Partei Böhmens und Mährens (7,76 %), die offensichtlich ihr Protespotential an andere verloren hat, zusammenzählt, kommen unbedeutende 15,03 % zusammen. Für beide Parteien gehören diese Ergebnisse zu den schwächsten ihrer Geschichte. Auf dem Höhepunkt der ersten Krise der Transformation, die die wild privatisierende Rechte langfristig geschwächt hat, im Jahre 2002 hatten die Beiden zusammen 48,71 % und eine bequeme Mehrheit von 111 Stimmen von 200 im Parlament. Zum gemeinsmen Regieren kam es nicht, Sozialdemokraten wollten mit den Kommunisten nicht koalieren.
Die einst auf dem rechten Flügel domnierende bürgerlich-demokratische Partei ODS (von Václav Klaus gegründet), konnte sich von den Verlusten der letzen Wahlen ein wenig erholen und mit 11,32 % den zweiten Platz einnehmen. Die anderen rechtsliberalen und konservativen Kräfte konnten sich gerade vor der 5 % Hürde retten: Christlich Demokratische Partei 5,8 %, TOP 09 (die Partei des ehemaligen Aussenministers Schwarzenberg) 5,31 %, Bürgermeister und Unabhängige 5,18 %. Die Parteien rechts von der Mitte kommen also auf 27,61 %.
Die Sieger der Wahl mit besseren Ergebnissen als erwartet sind die Piraten (10,79 %). Sie sind zum ersten mal im Parlament. Die Partei Freiheit und direkte Demokratie von Tomio Okamura, der schon vor vier Jahren mit einer ähnlichen Partei ins Parlament einzog, erhielt 10,64 %. Und schliesslich der erste Platz: die Bewegung ANO 2011 (JA) von dem zweitreichsten Mann des Landes, dem Unternehmer Andrej Babiš, mit 29,64 %. ANO ist jetzt schon ein Teil der Koalitionsregierung, die relativ erfolgreich war. Obwohl bis jetzt die Sozialdemokratie die Führung innehatte, hat sie verloren und ANO mit einer gut geführten Kampagne, in der sie die guten ökonomischen Ergebnisse für sich nutzte, hat gewonnnen.
Über die Hälfte der Stimmen (51,07%) erhielten also die Parteien, die behaupten „gegen das korrupte System“ aufzutreten. Die Partei von Okamura ist dazu radikal aniteuropäisch und xenofob, ANO 2011 spielt auch mit den Stimungen gegen Migranten und Muslime, aber das tun mehr oder weniger die meisten Parteien mit Ausnahme von TOP 09, den Piraten und den Grünen, die mit katastrofalen 1,46 % selbst die staatliche finanzielle Unterstützung der Partei verloren haben.
Die Koalitionsverhandlungen werden wahrscheinlich komplitziert. Die meisten Parteien haben vor der Wahl behauptet, dass sie sich keine Zusammenarbeit mit Andrej Babiš, der wegen Betrug von der Polizei und auch von EU untersucht wird, vorstellen können. Ausserdem war Herr Babiš sehr wahrscheinlich auch Mitarbeiter der kommunistischen Staatssicherheit. Die Parteien, die Medien (außer denen in Babiš´Besitz) und die Akteure in der Zivilgesellschat haben ihn scharf attakiert. Zum Schluss scheint es aber, dass es ihm eher genutzt hat, weil er sich als Opfer von allgemeiner Verfolgung darstellte.
Europa.blog: Viele europäische Gesellschaften haben bei den Wahlen in den letzten Jahren einen Rechtsruck gezeigt. Über die Ursachen wird viel diskutiert. Was waren aus deiner Sicht die Ursachen für dieses Wahlergebniss in Tschechien?
Jiří Silný: Mir scheint es, dass diese Wahlen einen massiven Verlust des Vertrauens für das politische System zeigen. Interessant ist, dass dies passiert in der Periode der Konjunktur – mit niedriger Arbeitslosigkeit (3,8 % im Moment), mehrmals erhöhtem Mindestlohn, allegemein steigenden Löhnen und Renten. Das sind alles erfüllte Programpunkte der Regierung. Nicht gelungen ist die Verabschiedung des fehlenden Geseztes zum Sozialwohnungsbau und eines zur personellen Insolvenz (in Tschechien gibt es jährlich etwa 700 000 Pfändungsfälle). Trotzdem konnte die Tatsache, das die sozialle Lage von vielen (bei weitem nicht von allen, aber die Schwächsten wählen ja meist nicht), die soziallen Themen von den linken Parteien, die vor vier Jahren eine grosse Rolle spielten, bei dieser Wahl als weniger wichtiges Thema erscheinen lassen.
Die Populisten haben sehr gut die Ängste der Leute geschürt und dabei leisteten die Medien grosse Hilfe und die unklare Position von den älteren Parteien spielte auch eine wichtige Rolle. Die panische Angst von den Flüchtlingen (keine sind gekommen, bzw. Tschechien hat 12 Personen aufgenomen) und von dem Islam, der eine kaum wahrnehmbare religiöse Minderheit darstellt, beinflusste sicher das Wahlverhalten von vielen. Stark ist auch das Gefühl von Fremdbestimmung, deshalb ist auch ein Gesetz, das die Durchführung von Referenden ermöglichen könnte (die Möglichkeit ist in der Verfassung verankert aber es fehlt auch nach fast dreissig Jahren das entsprechende Gesetz) ein wichtiges Thema der Wahl gewesen. Die geplante Vergabe der Rechte für die Nutzung der grossen Lithiumvorkomnisse in Erzgebirge an eine australische Firma hat kurz vor der Wahl noch das Bild der Sozialdemokratie beschädigt. Es passte gut in das verbreitete Mistrauen gegenüber Institutionen des Staates.
Die drei erfolgreichen Parteien zeichnen sich auch durch authentisch wirkende, charismatische Persönlichkeiten and der Spitze aus, die mit radikaler Rethorik eine grundlegende Veränderung versprechen. Die Programme sind meist wage oder bruchstückhaft.
Bei den linken Parteien, die gut ausgearbeitete Programme haben, fehlt dagegen das Charisma fast volkommen. Bei Sozialdemokraten wie bei Kommunisten gibt es innere Konflikte zwischen den liberalen und konservativen Teilen der Partei. Bei den Sozialdemokraten ist die Korruption ein Problem. Beiden Parteien fehlen überzeugende Persönlichkeiten.
Die Unternehmerparteien (Babiš und Okamura) haben auch über die gesetzlich erlaubten Wahlausgaben versteckt mehr Mittel zur Verfügung. Bei den Piraten hat auch ihre Fähigkeit die neuen Medien zu nutzen geholfen.
Europa.blog: Wie wird es poltisch weitergehen in der nächsten Zeit in Tschechien? Was erwartest du?
Jiří Silný: Wichtig ist, wie die Koalition aussehn wird oder wer eine Minderheitsregierung dulden wird. Bei der Fragmeintierung der politisichen Szene sind viele Optionen möglich. Z.B. weitermachen mit Sozialdemokratie und Christlichen Demokraten (sie schliessen es im Moment aus). Babiš behauptet, dass er eine Zusammenrbeit mit Kommunisten und dem rechten Populisten Okamure ausschliesst, in umgekehrter Richtung besteh mehr Offenheit für ihn. Bei der Beteiligung der Piraten könnte das Gemeinsame die technokratische Rationalität bilden, usw. Das einfachste wäre rein rechnerisch mit ODS eine Regierung zu bilden. Eine Verbindung gegen Babiš ist wenig wahrscheinlich, auch Neuwahlen nach drei gescheiterten Veruchen von Regierungsbildung sind nicht ganz ausgeschlossen.
Europa.blog: Kannst du etwas zu den Zielen von Andrej Babiš sagen? Was will er erreichen? Wie soll aus seiner Sicht eine Gesellschaft aussehen?
Jiří Silný: Andrej Babiš will den Staat wie (s)eine Firma führen. Er will weiter gegen die Korruption der anderen kämpfen und eigene Korruption legitimieren (seine Firmen gehören zu den grösten Empfängern der Zuschüsse). Er ist pragmatisch proeuropäisch (Zuschüsse), populistisch fremdenfeindlich wenn es Stimmen bringt.
Er konnte für seine Bewegung eine ganze Reihe Persönlichkeiten gewinnen, die direkt in die Politik kamen ohne den mühseligen Weg durch eine Parteihierarchie zu gehen. Einige haben ihn wieder verlassen, aber dass die Bewegung auseinanderbricht, wie manche vorausgesagt haben, ist nicht passiert. Die Bewegung hat erst jetzt etwas wie ein Program, das z.B. auf die Herausforderungen der Automatisierung reagieren will. Wie assozial schliesslich die Regierung wird, hängt von der Koalition ab. Babiš ist kein Ideologe, er ist pragmatisch – er wird sicherlich wenigsten sozial aussehen wollen.
Gefährlich ist, das ANO gemeinsam mit Okamura solche Gesetze, die Freiheiten beschränken, druchsetzen kann. Die Pläne sind z.B. die Position des Ministers für Menschenrechte zu streichen, die Finanzierung der NGOs zu reduzieren usw.
Andrej Babiš hält nicht viel von Demokratie – in der Firma, in der Partei, in der Gesellschaft.
Europa.blog: Welche Reaktionen aus der Zivilgesellschaft gibt es? Gibt es eine zivilgesellschaftliche Opposition außerhalb des Parlaments oder formiert sich eine solche?
Jiří Silný: Nach dem ersten Schock starten erste Analysen und Diskussionen. Schon vor der Wahl hat man darüber gesprochen, dass die Bewegung ProAlt (Für Alternativen), die sehr Aktiv und relativ wirksam im Kampf gegen die rechte Regierung von Nečas war, neu zu beleben wäre. Wichtig wird die Positionierung der Gewerkschaften, die gut mit der noch bestehenden Regierung in der Kampagne „Ende der billigen Arbeit“ zusammengearbeitet haben. Sie werden sicher ihren Druck fortsetzen.
Es gibt auch eine kleine Initiative von DiEM25, die unter diesen Umständen vielleicht mehr Leute anspricht und dem politischen Kampf auch die wichtige europäische Dimension geben könnte.
Europa.blog: Danke für das Interview
Titelfoto: Prag bei Nacht | Foto: Schnitzel Bank (CC BY-ND 2.0)
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