Chris Klomp ist ein niederländischer Journalist. Der folgende Artikel von ihm erschien erstmals am 9. November 2024 unter dem Titel „Amsterdam: een media frenzy“ auf seinem Blog. Die Wiedergabe der deutschsprachigen Übersetzung auf Europablog erfolgt mit Zustimmung des Autors.

Von Chris Klomp

Die jüngsten Gewalttaten in Amsterdam sind beunruhigend und beschämend. Mindestens ebenso besorgniserregend ist jedoch die massive Stimmungsmache, die von verantwortungslosen Journalisten und Politikern betrieben wurde. Die Engstirnigkeit vieler hat ein völlig verzerrtes Bild entstehen lassen, für das man sich zutiefst schämen sollte.

Ich will hier keineswegs leugnen, dass Antisemitismus, auch unter einem bestimmten Teil unserer Migrantenbevölkerung, ein großes Problem ist. Aber die Berichterstattung von Journalisten, Kommentatoren und Politikern nach den Ausschreitungen in Amsterdam kann beim besten Willen nicht als neutral und objektiv bezeichnet werden.

Fast alle sind blindlings auf den fahrenden Zug aufgesprungen und fast niemand hat die Notbremse gezogen.

Pogrom

Menschen, die zum Beispiel in den Vereinigten Staaten leben, müssen beim Lesen der Berichterstattung regelrecht schockiert gewesen sein. Israelische Touristen, die auf den Straßen von Amsterdam angegriffen wurden, nur weil sie Juden sind. Ein regelrechter Pogrom. Eine Judenjagd. Ein israelischer Präsident, der mit Flugzeugen eine Evakuierung organisierte, um die wehrlosen und unschuldigen Opfer dieses fast genozidalen Angriffs zu retten. Was war hier los?

Die Tiraden der Behörden halfen auch nicht weiter.

König Willem-Alexander erklärte entrüstet und entsetzt, Amsterdam habe die Juden im Stich gelassen, genau wie im Zweiten Weltkrieg. Bürgermeisterin Femke Halsema – mit Wilders im Nacken – berief viel zu schnell eine Pressekonferenz ein, in der sie Verständnis für Menschen zeigte, die in dem Vorfall ein Pogrom sahen.

Ganz zu schweigen von den israelischen Medien, die eine Handvoll Verwundeter als neuen Holocaust bezeichneten.

Narrativ

Mit wachsendem Erstaunen las ich die Berichte meiner Kollegen in der Zeitung. Hatte ich den Verstand verloren? Im Laufe des Tages wendete sich das Blatt durch die Leute, die einen kühlen Kopf bewahrten, ein wenig, aber viele Journalisten, Interpreten und Politiker berichteten weiterhin vollmundig über das Ereignis.

Abwarten, bis alle Fakten auf dem Tisch liegen, kam nicht in Frage, niemand wollte sich die Aufregung und Empörung entgehen lassen.

Ich schrieb schon einmal darüber, dass die Sprache der Funktion des Kanarienvogel in der Kohlengrube vergleichbar ist. Durch die Verwendung völlig subjektiver Begriffe wie „Tourist“ versus „organisierter muslimischer Abschaum“ wurde hier ein Rahmen geschaffen, der genau zur israelischen Propaganda passt. Einige Medien haben es sogar geschafft, den gesamten Fußballkontext einfach auszublenden.

Ungeheuerlich.

Judenhass

Die deutsche BILD-Zeitung schaffte es sogar, wütend zu titeln, dass „der Judenhass zurück ist“, und zwar direkt über einem Screenshot eines niederländischen Twitter-Nutzers, der gerade gefilmt hatte, wie israelische Fußballfans Amsterdam-Fans angriffen. Thierry Baudet spottete über die „Massenmigration“, die dies möglich gemacht hat. Sie kennen ihn: der Mann, der einmal erklärt hat, dass jeder in seiner unmittelbaren Umgebung ein Antisemit ist.

Man kann sich kaum ein besseres Symbol für das völlig unausgewogene Verhältnis (valse balans) vorstellen.

Die Ereignisse

Was wissen wir nun über die Ereignisse in Amsterdam?

Erstens war für den objektiven Beobachter von Anfang an klar, dass es sich keineswegs um unschuldige, wehrlose jüdische Touristen handelte, die für eine lauschige Woche mit ihren Familien in die Niederlande gekommen waren.

Es handelte sich um fanatische Anhänger des Fußballvereins Maccabi Tel Aviv. Der harte Kern dieses Vereins ist seit Jahren für seine extrem rassistischen und aggressiven Äußerungen bekannt. Vor einem europäischen Spiel in Athen haben sie schon einmal einen Mann zusammengeschlagen, nur weil er eine palästinensische Flagge schwenkte.

Provokationen

Die Zugehörigkeit zu einem Klub von Fußballfans mit äußerst fragwürdigem Verhalten ist kein Grund, verprügelt zu werden (obwohl Gegner in der Regel nicht viel brauchen, um gewalttätig zu werden), aber in diesem Fall steckte mehr dahinter.

Einige Fans des Fußballclubs hatten sich in unserer Hauptstadt schon seit einiger Zeit äußerst provokativ und aggressiv verhalten. Nach Angaben eines Amsterdamer Polizeichefs wurden palästinensische Fahnen aus Häusern gerissen, eine Fahne mitten auf dem Dam-Platz angezündet und ein Taxi verwüstet. Die Gruppe ging maskiert und mit Stahlrohren durch die Straßen.

Journalisten und Taxifahrer wurden belagert, und die Gruppe skandierte unaufhörlich Texte, in denen sie die Ermordung von Palästinensern, Frauen und Kindern bejubelte. Sie lobten die israelischen Streitkräfte (die vor kurzem vom Internationalen Gerichtshof gewarnt wurden, dass sie einen Völkermord doch besser vermeiden sollten) und riefen „fickt die Araber“.

Die Fans haben sogar gesungen, dass es in Gaza keine Schulen mehr gibt, weil es dort sowieso keine Kinder mehr gibt.

Taxifahrer

Ich weiß nicht genau, wie erfahren manche Journalisten sind, aber ein Angriff auf Amsterdamer Taxifahrer ist immer ein Garant für organisierten Widerstand. Immerhin setzen sich diese Leute ziemlich oft füreinander ein. Lest vor allem, was schon alles geschehen ist, wenn sie kollektiv gegen Schnorrer vorgehen, einschließlich des Festhaltens an Autos. Auch das Wort Taxikrieg ist kein Scherz.

Wer diese Dynamik nicht sieht, hat entweder keine Erfahrung oder will sie einfach nicht sehen, wahrscheinlich weil Nuancen nicht zählen.

Scooter

Es scheint, dass neben dem Widerstand der Taxifahrer auch Gruppen von Jugendlichen auf Motorrollern aktiv waren. Ich weiß nicht genau, um wen es sich dabei handelt, das müssen weitere Untersuchungen zeigen, aber es würde mich nicht wundern, wenn es sich um Jugendliche handelt, die irgendwie arabische Wurzeln haben.

Zweifellos werden antisemitische Gedanken dabei eine Rolle spielen, aber könnte es nicht auch mit der geradezu als skrupellos zu bezeichnenden Vorgehensweise der israelischen Regierung gegen die Palästinenser zu tun haben? Könnte es sein, dass Menschen, die Familienangehörige verloren oder jahrelang in einem öffentlichen Gefängnis und unter einer skandalösen Apartheidpolitik gelebt haben, etwas gegen rassistische Fußballfans haben, die tonnenweise Salz in die noch frischen Wunden streuen?

Tel Aviv

Könnte es zum Beispiel nicht auch sein, dass Fußballfans, die nach Tel Aviv reisen, um die schrecklichen Ereignisse vom 7. Oktober zu bejubeln und israelische Flaggen von Gebäuden zu reißen und sie in Brand zu stecken, nicht gerade freundlich behandelt werden würden? Ich wage hier zu behaupten, dass dieselben Journalisten und Politiker, die jetzt so voll auf die Pauke hauen, dann nicht von wehrlosen Touristen oder einem Pogrom sprächen.

Nochmals: Ich werde an dieser Stelle sicher nicht leugnen, dass Antisemitismus bei den Ereignissen in Amsterdam eine Rolle gespielt hat. Aber diese Komponente zu benennen, ist etwas ganz anderes, als den Fußballkontext und die Rolle der Anhänger von Maccabi Tel Aviv völlig zu ignorieren, wie es so viele Leute bereitwillig getan haben und immer noch tun.

Auf der Jagd

Zwar scheint es sich hier nicht um zwei rivalisierende Gruppen von Fußballfans zu handeln, aber es ist mir völlig unklar, warum selbst erfahrene Journalisten die Tatsache ignorieren, dass Hetzjagden auf Fußballfans bei Auswärtsspielen in europäischen Städten an der Tagesordnung sind.

Ajax-Anhänger haben als Opfer jede Menge Erfahrung damit, aber nie wurde es als Pogrom bezeichnet.

Beispiele gibt es viele. Anhänger von Hammarby IF eröffneten im Sommer 2023 eine regelrechte Menschenjagd auf niederländische Fußballfans. Die Hammarby-Fans riefen dazu auf, aktiv nach niederländischsprachigen Personen zu suchen, vorzugsweise Männer in schwarzer oder neutraler Kleidung. Es wurde dazu aufgerufen, Autos mit niederländischen Nummernschildern zu verfolgen und zu fotografieren.

„Stecht ihnen die Reifen auf, denn sie müssen sich terrorisiert und gejagt fühlen“, schrieb ein Fanclub in den sozialen Medien.

Telegram

Und ja, auch Telegram oder Whatsapp werden schon lange dafür genutzt. Die Tatsache, dass die Leute jetzt das Wort Judenjagd verwenden, scheint an sich auch nicht sofort alarmierend zu sein. Unsere eigenen sahneweißen Fans niederländischer Vereine riefen jahrelang mit spielerischer Leichtigkeit „Hamas, Hamas, alle Juden ins Gas“.

Im Jahr 2011 sang der Spieler von ADO Den Haag, Lex Immers, zusammen mit seinen Fans fröhlich, dass sie „auf Judenjagd gehen“ würden. Ist das Antisemitismus? Oder nur eine geschmacklose Reaktion auf die Tatsache, dass Fans aus Amsterdam (die übrigens nicht selten in Almere-Haven wohnen – Anm.d.R.: Almere-Haven ist der älteste Stadteil des Mitte der 1970er Jahre gegründeten Amsterdamer Vororts Almere und galt lange als Wohngebiet für Menschen, die sich im Zentrum von Amsterdam keine Wohnung leisten konnten) den Begriff Juden als Schimpfwort verwenden?

Antisemitismus

Wie bereits zu Beginn dieser Geschichte erwähnt: Antisemitismus ist ein Problem. In den Niederlanden, ebenso wie in Europa. Und ja, es ist auch ein Problem, dass bestimmte Migrantengruppen antisemitisch eingestellt sind. Ich muss sagen, dass wir angesichts unserer dunklen Geschichte nicht gerade an vorderster Front stehen sollten, wenn wir über die Verurteilung von Antisemitismus sprechen, aber das macht das Problem nicht kleiner.

Für mich ist es aber genauso ein Problem, wenn Journalisten und Politiker mit Scheuklappen durch die Berichterstattung hecheln und dabei den Kontext völlig aus den Augen verlieren und unkritisch israelische Propaganda nachplappern.

Öl

Denn ich würde wirklich gerne wissen, was um alles in der Welt all diese schäumenden Tweets von Politikern und diese gefärbte Berichterstattung zu den Problemen beitragen. Abgesehen davon, dass sie nur Öl ins Feuer gießen und die Probleme weiter verschärfen. Das sehen wir schon jetzt, denn Geert Wilders hat schon wieder Schaum vorm Mund, wenn er von der Abschiebung krimineller Muslime spricht.

Das war von Wilders und den populistischen Medien zu erwarten, aber dass sich der Rest in diesem Fall so bereitwillig an einer solchen karikierenden Darstellung beteiligt, gibt doch sehr zu denken.

Haie

Wir alle kennen die Bilder von Haien, die außer Kontrolle geraten, wenn sie gemeinsam um Futter kreisen. Das freigesetzte Blut lockt weitere Haie an, und es kommt zu einem Fressrausch.

Ungeachtet aller berechtigten Bedenken hinsichtlich der antisemitischen Ressentiments war es genau das, was hier vor sich ging. Eine beschämende Fressorgie von Medien und Politikern, die wirklich überhaupt nichts zur Lösung des Problems beitragen wird.

Abschließend möchte ich noch Folgendes anmerken:

Wenn man die massenhafte und anhaltende Tötung von Frauen und Kindern nicht als Völkermord bezeichnen kann, wie kann man dann eine gewalttätige Abrechnung mit aggressiven und provokanten Fußballfans als Pogrom bezeichnen?

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Ergänzende Artikel

Titelbild: erik forsberg CC BY-NC 2.0 DEED via FlickR

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