Dass die Europäische Union sich heute in einer Orientierungskrise befindet, sollte uns nicht verwundern oder überraschen. In den letzten Jahren wurde das europäische Projekt anhand von zwei Krisen – die Finanz- und die Flüchtlingskrise – auf die Probe gestellt, und die Ergebnisse sind alles andere als ermutigend.

Durch Austerität und rigorose Haushaltspolitik wurden die Abstände und unterschiedlichen Geschwindigkeiten zwischen den europäischen Volkswirtschaften vergrößert und das Problem des sozialen Zusammenhalts weiter verschärft. Zudem führte die Flüchtlingskrise zur Zunahme von fremdenfeindlichen und europaskeptischen Tendenzen bei den konservativen gesellschaftlichen Schichten und zur politischen Stärkung des Rechtspopulismus. Dadurch wurden die Einheit, der Zusammenhalt und das Ansehen der EU im Hinblick auf die Umsetzung der gemeinsamen Verpflichtungen und Beschlüsse einer Bewährungsprobe unterzogen.

Die wirtschaftliche und geopolitische Unsicherheit wird sowohl durch die Folgen des Brexits als auch durch die noch nie dagewesenen Umstände infolge der Entwicklungen jenseits des Atlantiks verstärkt. Zugleich stehen kritische Wahlen in wichtigen europäischen Ländern in diesem Jahr an, und vor dem Hintergrund der rasanten Zunahme nicht nur des Euroskeptizismus, sondern auch der Verneinung Europas, bildet sich ein Klima wachsender Besorgnis über die Zukunft, den Charakter und vor allem die Existenz Europas an sich heraus.

Das Schlimmste, was man tun könnte, wäre zu glauben, dass wir nicht etwa einen falschen Kurs eingeschlagen haben, sondern dass vielmehr die Küste falsch liegt.

Unter diesen Umständen ist es gerechtfertigt, einen Dialog zu eröffnen und mutige Entscheidungen zu treffen. Das Schlimmste, was man tun könnte, wäre zu glauben, dass wir nicht etwa einen falschen Kurs eingeschlagen haben, sondern dass vielmehr die Küste falsch liegt. Die Diskussion befindet sich zwar noch am Anfang, aber unter den gegebenen Umständen wird sie sich voraussichtlich schnell entwickeln.

Es wäre also konstruktiv, wenn alle Beteiligten deutlich und ganz ehrlich offenlegen, was sie im Sinn haben. Die Mitgliedstaaten müssen diese Diskussion vorantreiben, indem sie die Grundsätze, Grenzen und die Substanz dessen was sie als europäische Zukunft verstehen, festlegen, so dass es zu keinen weiteren Rückschritten beim europäischen Besitzstand kommt und jede Möglichkeit einer De-facto-Spaltung des vereinten Europas ausgeschlossen wird.

Auf der anderen Seite müssen wir nicht nur dringend die richtigen Entscheidungen treffen – sie müssen auch realistisch und umsetzbar sein, freilich im Rahmen der sich derzeit herausbildenden Interdependenzen. Hier geht es nicht nur um das politische Kräfteverhältnis, sondern um das Verhältnis zwischen 27 Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Prioritäten, finanzieller Leistungskraft aber auch politischer Kultur.

In dieser Situation und in der jetzigen Konstellation ist es offensichtlich, dass die Bekundungen der Mitgliedstaaten über eine „immer engere Union“ an Momentum und Inhalt verloren haben. Im Gegenteil scheint die Tendenz immer mehr zu einem Europa „nach Gutdünken“ zu führen.

Das wäre ein Europa „à la carte“, in dem jedes Mitglied darauf bedacht ist, die größtmöglichen Vorteile für sich herauszuholen – durch die Beteiligung am Binnenmarkt sowie an Struktur- und Kohäsionsfonds –, aber nur selektiv dazu beitragen will.

Das haben wir in der Flüchtlingsfrage glasklar gesehen: in der Weigerung einiger Mitgliedstaaten, die für alle verbindlichen Umsiedlungen umzusetzen und sich lieber hinter Zäunen und geschlossenen Grenzen zu verschanzen.

Die Unterminierung der Solidarität zwischen den Partnern ist ein besonders besorgniserregendes Zeichen für den Grad und die Qualität des europäischen Zusammenhalts.

Diese Praxis droht Europa zu einem Freihandelsraum verkommen zu lassen. Die Unterminierung der Solidarität zwischen den Partnern ist ein besonders besorgniserregendes Zeichen für den Grad und die Qualität des europäischen Zusammenhalts. Genauso besorgniserregend ist auch die sich vielerorts abzeichnende Stärkung des Rechtsextremismus und der Abschottungspolitik, mit der die weitreichende Vertrauenskrise breiter Bevölkerungsschichten gegenüber dem europäischen Modell bestätigt wird.

Kann aber die Antwort auf diese offensichtliche Schwäche ein „Europa verschiedener Geschwindigkeiten“ sein? Das sollten wir uns gründlich überlegen, bevor wir diese Frage beantworten.

Bergsteiger, die mit einem Seil verbunden sind, bewegen sich mit gleicher Geschwindigkeit. Wenn sie darauf verzichten, bildet sich ein neues System mit der Möglichkeit mehrerer Geschwindigkeiten heraus. Dann hängt es von der Kraft und Leistungsfähigkeit jedes einzelnen ab, ob er in der Gruppe der Leistungsstärksten bleibt oder allein wandert, in welche Richtung auch immer.

Das bedeutet keineswegs mehr Freiheit. Es bedeutet vielmehr eine Aufhebung der Verantwortung der Stärkeren für die Schwächeren. Selbstverständlich ist ein solches Modell, in dem die Mächtigen die Regeln für sich selbst festlegen und es jedem Einzelnen überlassen ist, sie zu befolgen oder zugrunde zu gehen, nicht akzeptabel – weder auf gesellschaftlicher Ebene noch als Perspektive einer europäischen Zukunft.

Wenn wir andererseits dafür sorgen, dass wir alle im selben Boot mit gleicher Geschwindigkeit fahren, kann es nicht sein, dass nur weil einige etwa in ihrer Kabine bleiben wollen, für alle anderen der Zugang zum Deck versperrt wird.

Wenn wir also die heutige Situation neu definieren wollen, dann sollten wir nicht von einem Europa der „mehreren Geschwindigkeiten“, sondern vom „Europa der mehreren Optionen“ reden. Wenn das Europa von morgen „denen, die mehr wollen“, die Möglichkeit geben soll „es auch zu tun“ und damit unterschiedliche Integrationsniveaus zu erreichen, sollte das unter konkreten Voraussetzungen ermöglicht werden , die den offenen, demokratischen und kohärenten Charakter der EU gewährleisten.

Was bedeutet das in der Praxis?

Erstens, dass jede Diskussion und vor allem jede Entscheidung in diese Richtung im Rahmen der heute geltenden Verträge, Regeln und Verfahren der EU stattfinden muss, sowie auf der Grundlage der Vorgaben des Vertrags von Lissabon, der heute die „EU- Verfassung“ darstellt.

Zweitens, dass die weitere Vertiefung in konkreten Politikbereichen beim heutigen Stand der verstärkten Zusammenarbeit, wo vorhanden, beginnen sollte und keinen Rückschritt bedeuten darf. Mit anderen Worten, es sollte von jedem Gedanken der Aufspaltung bestehender Institutionen, wie die Eurozone und der Schengen-Raum, abgesehen werden.

Jeder Gedanke an geschlossene „Clubs“ der Mächtigen, mit eigenen internen Regeln, von denen Dritte ausgeschlossen sind, sollte aufgegeben werden.

Drittens sollte jeder Gedanke an geschlossene „Clubs“ der Mächtigen, mit eigenen internen Regeln, von denen Dritte ausgeschlossen sind, aufgegeben werden. Auf die Idee eines harten Kerns innerhalb der Eurozone, um den herum die anderen Länder wie Satelliten kreisen müssten, sollte ebenfalls verzichtet werden. Jede Ebene der verstärkten Zusammenarbeit sollte allen Mitgliedstaaten offen und frei zugänglich sein.

Viertens und letztens sollten wir der Schwächung der europäischen Kohäsions- und Konvergenzpolitik entgegenwirken. Hier geht es um die Politik, die dem Solidaritätsprinzip Substanz verleiht und gewährleistet, dass das Europa mehrerer Optionen nicht den Zerfall und das Ende des heutigen Europas bedeutet.

Griechenland befindet sich, den Vorstellungen einiger Wohlmeinender zum Trotz, sehr nahe am Abschluss der zweiten Evaluierung, der Inklusion in das Programm der quantitativen Lockerung (Easing) der Europäischen Zentralbank und der Vereinbarung mittelfristiger Maßnahmen für die Schuldentragfähigkeit und kommt somit nach sieben Jahren aus dem langen, dunklen Tunnel heraus.

Das griechische Volk musste eine unverhältnismäßig schwere Last im Namen Europas auf den Schultern tragen, da wir uns im Mittelpunkt der Finanz- und Flüchtlingskrise befanden. Diese Last haben wir getragen, im Bewusstsein unserer Entscheidung über den Verbleib des Landes im Kern des Integrationsprozesses, der Eurozone und dem Schengen-Raum. Somit haben wir einen berechtigten Anspruch darauf, in der Diskussion über die Zukunft Europas eine maßgebliche Rolle zu spielen.

In jedem Fall muss sich die Diskussion einer strategischen Neuausrichtung Europas an Wachstum und Solidarität orientieren. Anderenfalls wird die Kluft zwischen europäischen Institutionen und Gesellschaft immer größer werden, und zwar nicht nur in den finanziell schwächeren, sondern auch in den stärkeren Ländern.

Das progressive Europa, die Gewerkschaften und sozialen Kräfte, die politischen Räume der Linken, der Sozialdemokratie und der Ökologie müssen ebenfalls eine führende Rolle in den Entwicklungen anstreben.

Sie sollten ohne Eigeninteressen und Vorurteile zusammenarbeiten, für die Entwicklung einer progressiven, alternativen Agenda für Europa. Damit kann Anspruch auf eine demokratische Mehrheit erhoben werden, mit den strategischen Hauptzielen der Festigung der Demokratie, der Sicherung menschenwürdiger Arbeit, der Verteidigung des Sozialstaats und des Abbaus von sozialen und regionalen Ungleichheiten.

Eine solche Agenda stellt die einzige wirksame Antwort auf die Kräfte des Rechtspopulismus, der Abschottung und der Fremdenfeindlichkeit dar und ist somit der einzige Weg, um Europa zusammenzuhalten. Der Weg, den wir einschlagen müssen, führt zu einem demokratischen, sozialen Europa. Einen anderen „klaren Weg“ in die Zukunft gibt es nicht.

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