Von Frederik D. Tunnat

Allenthalben wird gegenwärtig, anlässlich der zahlreichen Feiern zum 75. Jubiläum unseres Grundgesetzes, vor den Gefahren gewarnt, denen sich das demokratisch verfasste Deutschland ausgesetzt sieht.

Der scheinbar unerklärbare Zulauf zur Neonazipartei AfD, das unverschämte Auftrumpfen muslimischer Verfassungsfeinde, die ein Kalifat für Deutschland, wenn nicht gleich in ganz Europa einfordern; Reichsbürger, die unsere Demokratie mit Waffengewalt beenden und an deren Stelle eine neo-monarchistische Diktatur etablieren wollen, Putin-Verehrer, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ein Wiederauferstehen der Sowjetunion unter Alleinherrscher Putin; iranische Religionsfanatiker in Regierungsverantwortung, der sich mindestens den Nahen Osten, lieber gleich die ganze Welt untertan machen wollen; ein chinesischer Wiedergänger Maos, der die chinesische Weltherrschaft unter seiner Führung anstrebt; Mini-Potentaten in der Slowakei und Ungarn, die ihren Teil vom diktatorischen Kuchen abhaben wollen. Wohin man aktuell blickt, nicht nur innerhalb der Bundesrepublik, überall in Europa, der Welt, selbst in der ehemaligen Wiege der neuzeitlichen Demokratie, den USA, setzt ein wild gewordener Narzzist und Psychopath an, sich mindestens zum lebenslangen Diktator Amerikas, wenn nicht gleich zum Kaiser-König der USA, a la Bokassa, aufzuschwingen; sind demokratische Kräfte und Regierungen in ernsthafte bis existentielle Abwehrgefechte mit Verfassungsfeinden oder  Möchtegern-Diktatoren neuzeitlichen Zuschnitts verwickelt. Wenn daher unser Bundespräsident, den unser Grundgesetz, wegen der schlimmen Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung, zu einer Art „Grüßonkel“ degradiert, vor ernsthafter Bedrohung für unsere Demokratie warnt, sollten wir das nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Apropos Grundgesetz: Seit es mir, nebst seiner Entstehung und Geschichte, während der Schulzeit nah gebracht wurde, bin ich Befürworter und Fan unserer noch immer „vorläufigen“ Verfassung namens Grundgesetz. Will sagen: Ich gehöre zu den entschiedenen und überzeugten Befürwortern eines demokratischen Staatswesens, in diesem Fall, unserer Bundesrepublik Deutschland, die auf den Ruinen der Nazi-Diktatur errichtet wurde; mit Sicherheit das Beste ist, das unserem Land in seiner langen Geschichte widerfuhr.

Dennoch, oder gerade wegen meiner demokratischen Überzeugung, kann ich den offiziellen,  aktuellen Jubelfeiern unseres Grundgesetzes nicht nur Positives abgewinnen. Zu sehr treibt mich, seit der Wiedervereinigung 1990, um, dass wir, ich meine die „alte“, ehedem nur Westdeutschland umfassende Bundesrepublik, es unterlassen haben, den letzten Artikel unseres Grundgesetzes, getreu der Vorgaben und Vision seiner Mütter und Väter, umzusetzen.

Ich beziehe mich auf Artikel 146, der in der Originalversion von 1949 so lautet: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.

Für mich, wie für nicht wenige Verfassungsrechtler, Historiker und Politiker besagt Artikel 146 nicht mehr und nicht weniger, als in dem Augenblick, an dem die 1949 recht unwahrscheinliche Vision einer Wiedervereinigung Deutschlands Realität werden würde, das bewusst als provisorisch, deshalb nicht Verfassung, sondern Grundgesetz benannte Gesetz durch eine endgültige Verfassung abgelöst werden muss, über die alle mündigen, demokratischen Bürger der Bundesrepublik, sowie die neu dazu gekommenen der Neuen Bundesländer, in freier und geheimer Abstimmung, als eigentlicher Souverän einer Demokratie, abstimmen sollten.

Um diesen souveränen, verfassungsrechtlich bedeutenden Abstimmungs- und Zustimmungsvorgang, zur Akzeptanz und Zustimmung der Verfassung unseres Staates, haben uns unsere damaligen Politiker um den Saumagen-Kanzler Kohl und sein listiger Adlatus Wolfgang Schäuble, entgegen der klaren Direktive des Grundgesetzes, in recht undemokratischer, manipulativer Weise, bewusst und mit Absicht, betrogen. Dieses Grundgesetzwidrige Verhalten unserer damaligen gewählten Volksvertreter bedauere ich noch heute, lehne es als inakzeptabel ab, mache es nicht unwesentlich für die inzwischen eingetretene Unzufriedenheit erheblicher Teile unserer Bevölkerung mit und in unserer Demokratie verantwortlich.

Es ist inakzeptabel, einerseits ständig von Demokratie und den damit verbundenen  Freiheitsrechten zu schwafeln, andererseits den eigenen Bürgern, wo und wann immer es binnen der letzten 75 Jahre angesagt und notwendig gewesen wäre, ihre Meinung per Wahlvotum bzw. Referendum einzuholen, ihr Recht als eigentliche Souveräne der Demokratie abzusprechen. Ich beziehe mich nicht nur auf die ausgefallene Verfassungsdiskussion und das laut Grundgesetz zwingend vorgeschriebene Referendum über eine endgültige Verfassung; ich beziehe so wesentliche Entscheidungen mit weitreichender Tragweite, etwa Referenden zu den maßgeblichen EU-Verträgen von Maastricht etc., hierbei ein. Auch so existentielle Fragen, wie die Abschaffung oder Wiedereinführung der Wehrpflicht gehört für mich nicht vom Bundestagsklüngel, sondern von uns Bürgern, als Trägern unserer Demokratie entschieden. Die Basis für derartige Referenden zu essenziellen Entscheidungen hätte m.E. in die endgültige Verfassung gehört, da das Totschlagargument dagegen, 55 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur, das die Mütter und Väter des Grundgesetzes bewogen hat, uns, dem Volk der Mitläufer und Überzeugungstäter, seinerzeit das demokratische Recht auf Mitentscheidung per Referendum vorzuenthalten, mittlerweile obsolet sein sollte. Was 1945 angebracht und richtig war, war es im Jahr 1990 längst nicht mehr, noch weniger in den Jahrzehnten seither.

Es ist und war nicht damit getan, wie 1990 geschehen, den Artikel 146 des GG folgendermaßen abzuändern: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Das nenne ich sich um demokratische Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger herum zu mogeln. Die Langzeitwirkung derartigen Verhaltens erleben wir gegenwärtig, da immer mehr Bürger das diffuse Gefühl haben, wir werden regiert, statt in verfassungsmäßig akzeptablem Maß demokratisch daran mitwirken zu können.

Die nicht länger vermittelbare Diskrepanz zwischen dem angeblich politisch unmündigem Bürger, der bei den großen, entscheidenden Fragen der Nation „falsch“ entscheiden würde, und dem hochtrabenden Gerede von unseren demokratischen Rechten und Pflichten, sowie der nicht diskutierbaren Tatsache, in einer repräsentativen und nicht in einer unmittelbaren Demokratie – wie etwa in der Schweiz – zu leben, sorgt zunehmend für Unmut. Besonders, wenn unsere gewählten Repräsentanten, statt das Landeswohl und das aller Bürger im Blick zu haben, haufenweise Entscheidungen treffen, die nicht der schweigenden Mehrheit der Bevölkerung entsprechen, sondern von Klientel- und oder Parteiinteressen diktiert sind. Das führt nicht nur zu Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung, es befeuert auch Ohnmachtsgefühle, die sich ein Ventil suchen, sei es aus Opportunismus oder Protest heraus, bei demokratiefeindliche Parteien und Gruppierungen.

Ich behaupte, an der gegenwärtig eingetretenen Misere, den Zweifeln vieler Bürger an den Grundlagen unserer Demokratie, tragen die gegenwärtig im Parlament vertretenen Parteien,  die aktuelle wie vorangegangene Regierungen eine nicht unerhebliche Mitschuld. War bereits der Parlamentarische Rat im Jahr 1949 einseitig von Juristen und Beamten dominiert, sprich Mitgliedern des Öffentlichen Dienstes, hat sich deren Anteil im parlamentarischen Bereich inakzeptabel stark potenziert.

Wie jedermann problemlos im Archiv des Bundestags nachlesen kann, hat sich seit 1949, dem Jahr, in dem sich der Bundestag erstmals konstituierte, der Anteil der aus dem öffentlichen Dienst und Parteien stammenden Abgeordneten auf 43% erhöht, wohingegen Beamte und öffentlich Bedienstete gerade mal 11% aller deutschen Beschäftigten in Höhe von gut 44 Millionen Menschen ausmachen, d.h. nicht einmal 6% der Gesamt-Bevölkerung von 84,5 Millionen ausmachen, aber mit 43% mehr als überrepräsentiert im Parlament vertreten sind.

Mit anderen Worten: Beamte und öffentlicher Dienst machen Politik in eigener Sache, zulasten der überwiegenden Mehrheit Deutschlands. Dass dies keine plumpe, aus der Luft gegriffene Behauptung ist, beweist bereits ein markantes Beispiel: während die, durch Beiträge der Beschäftigten, Renten ständig gekürzt und unter ein menschenwürdiges Existenzminimum gedrückt wurden – Stichwort Altersarmut – gönnen sich die mit Mehrheit im Parlament vertretenen Beamten und öffentlich Angestellten inzwischen Pensionen, die zwischen drei bis viermal so hoch sind, wie Durchschnittsrenten. Und das, obwohl Beamte nie einen Cent in ihre Altersversorgung einzahlen!

Mit den sich selbst erteilten und zugeschanzten Privilegien ist jedoch bei den üppig bemessenen Pensionen nicht Schluss! Ganz im Gegenteil. So haben sich unsere wackeren Abgeordneten, die zwischen 1949 und 1951 Diäten von ca. 300 Euro für ihre Aufgabe als unsere Repräsentanten erhielten – was bedeutete, dass sie ein Vollzeitberuf ernähren musste – seit 1971 (dem Zeitpunkt der sozial-liberalen Koalition) nicht nur zunächst knapp 2000 Euro als Diäten gegönnt, sondern ihre Diäten auf inzwischen stolze 10.600 Euro erhöht. Zudem gönnen sie sich inzwischen knapp 5000 Euro Kostenpauschale.

Unsere Abgeordneten sind sich aktuell pro Jahr 255.000 Euro wert, an Aufwendungen, die wir Steuerzahler jedem einzelnen von ihnen pro Jahr zuwenden müssen, ob wir wollen oder nicht, denn sie, unsere Abgeordneten entscheiden ja immer und ständig in eigener Sache über unser aller Geld. Wen es interessieren sollte: ein Abgeordneter im Bundestag kostet uns genau soviel, wie 212 Bürgergeldempfänger. Bei aktuell rund 700 Abgeordneten sind das rund 149.000 Bürgergeldempfänger, die wir aus Steuergeldern finanzieren könnten. Tatsächlich wenden wir das Geld jedoch für ganze 700 Menschen auf. Unten zum Nachrechnen und Nachvollziehen die einzelnen Kostenfaktoren für unsere Bundestagsabgeordneten, Stand 2023:

Diäten:                                                                               127.000 €

Pauschale:                                                                             60.000 €

Büro für sich und Mitarbeiter ca.                                                  20.000 €

Reisekosten ca.                                                                       10.000 €

Sachleistungen                                                                        12.000 €

Mitarbeiterpauschale                                                                 26.000 €

Obwohl, wie erwähnt, inzwischen 43% unserer Abgeordneten dem öffentlichen Dienst entstammen, was bedeutet, sie erhalten ihre bereits üppige Pension, lassen sie sich den Abschied aus dem Parlament rund 190.000 € pro ausscheidendem Abgeordneten kosten. Erreichen sie schließlich die Altersgrenze, gönnen sich unsere ehemaligen Abgeordneten die ansehnliche Summe von 6.900 pro Monat oder knapp 83.000 €. Hinzu kommen ihre Pensionen oder sonstigen Altersbezüge – bei den Abgeordneten, die nicht zum öffentlichen Dienst gehörten. Ich empfinde diese üppigen Zahlen als Versorgungsmentalität in eigener Sache – zu Lasten und auf Kosten von uns Steuerzahlern. Ohne Zweifel ginge es auch weniger üppig.

Unten die Daten der Bundestagsverwaltung zur beruflichen Verortung unserer Abgeordneten:

1.1 Öffentlicher Dienst

203 = 29%

203
.1 Beamte
.1 Verwaltung 53
.2 Polizei 8
.3 Justiz 9
.4 Bundeswehr, Bundespolizei 4
.5 Kommunale(r) Wahlbeamter/Wahlbeamtin 29
.6 Bildung, Lehre, Forschung
Hochschulangehörige
Lehrer
Sonstiges
33
34
1
.9 Sonstiges
.2 Angestellte
.1 Verwaltung 10
.2 Justiz 1
.3 Bildung, Lehre, Forschung 9
.4 Medizinische bzw. heilkundliche Berufe 10
.9 Sonstiges 1
.9 Sonstiges 1
1.2 Politische und gesellschaftliche Organisationen, Mitarbeiter bei Abgeordneten

99 = 14%

.1 Parteien und Fraktionen 53
.2 Gewerkschaften, Arbeitnehmerorganisationen 15
.3 Mitarbeiter bei Abgeordneten 24
.9 Sonstiges 7

Interessant war für mich, dass im Bundestag ganze 1,4% Abgeordnete sitzen, die als

Autoren und oder Journalisten tätig waren. Hausfrauen, Arbeitslose und Studenten, die grob geschätzt ungefähr die Hälfte unserer Bevölkerung repräsentieren, d.h. etwa 42 Millionen Menschen, sind mit 3% unter den Abgeordneten vertreten. Klar, dass weder Hausfrauen, noch Arbeitslose noch Studenten ähnlich gute Versorgungsergebnisse für sich erzielen können, wie die Beamten und öffentlich Bediensteten. Dafür sind im Bundestag Wirtschaft & Verbände immerhin mit 19% aller Abgeordneten vertreten, als Beweis und Ausdruck für die überzeugende Lobbyarbeit, die sie im Interesse ihrer Verbände und der deutschen Wirtschaft für ihre Klientel leisten.

Es war sicher nicht die Intention des Parlamentarischen Rats, der sich und damit uns allen per Grundgesetz, unsere noch immer vorläufige Verfassung, sich selbst die Arbeitsgrundlage gab, dass eine vergleichsweise kleine Bevölkerungsgruppe eine derart dominierende, beherrschende Rolle einnehmen würde. Doch da öffentlich Bedienstete mittlerweile nicht nur das Parlament dominieren, sondern auch die Parteien, ist eine Situation eingetreten, die für großes, anschwellendes Unbehagen in immer mehr Bevölkerungsteilen sorgt. Die Stimmung über die einseitige Bevorzugung von Beamten, Wirtschaft und Vermögenden, zulasten des größten Teils der Bevölkerung, die sich inzwischen weder auskömmlichen Wohnraum leisten können, noch ihre Familien ausgewogen und gesund von ihrer Hände Arbeit ernähren können, im Alter abgehängt und unter das finanzielle Existenzminimum gedrückt werden, ist selbst in den abgehobenen, jenseits der Realität unserer Republik dahin lebenden Politik- und Wirtschaftskreisen nicht zu überhören und zu -sehen.

Wir haben eine mehr als ungute Entwicklung zugelassen, in unseren Parlamenten, in den von diesen kontrollierten und aus ihnen hervorgegangenen Bundes- und Landesregierungen. Dass sich nun enttäuschte, frustrierte Bürger gar gedanklich mit Aufstand und Staatsstreich befassen – siehe Reichsbürger – sich andere massenhaft der von China und Russland gesteuerten AfD zuwenden, während die etablierten, sog. bürgerlichen Parteien massenhaft an Mitgliederschwund und nicht vorhandenen Wählern leiden, sollte kaum jemanden wundern, schon gar nicht aus der Riege der doppelt privilegierten Politiker und Abgeordneten aus Politik und den eigenen Apparaten. Sollten sie nicht schnellstmöglich ihre lange aufgebaute Arroganz gegenüber ihren Mitbürgern und Wählern aufgeben und der eingetretenen, überall sichtbaren und spürbaren sozialen Ungleichheit Einheit gebieten, sowie sich freiwillig einiger ihrer zugeschanzten Privilegien entledigen, sowie endlich Vermögende und Wirtschaft angemessen besteuern, dürfte uns allen binnen weniger Jahre unsere vorläufig verfasste Grundgesetz-Republik um die Ohren fliegen.

Ich empfehle die Lektüre von geschichtlichen Darstellungen über die Weimarer Republik (etwa die ausgezeichnete Darstellung des Historikers Golo Mann) oder jene über die Novemberrevolution 1918, oder gleich eine Darstellung der Ereignisse, die 1789 in der Französischen Revolution gipfelten. Immer, in allen drei revolutionären Phasen, hatte sich berechtigter Unmut in der Bevölkerung angesammelt, hatten die Privilegierten nicht beizeiten gehandelt und Konzessionen für mehr ausgleichende Gerechtigkeit gemacht, weshalb sich im Kessel soviel Dampf anstaute, der nur noch via Revolution entweichen konnte. Auf der Skala des Revolutionsbarometers ist der Zeiger, mit Bezug auf Deutschland, längst in den roten Bereich abgedriftet, jener Bereich, der hohen Druck anzeigt, der, falls er sich unkontrolliert entlädt, das Zeug zu Umsturz und Gewalt beinhaltet. Insofern kann ich unseren abgehobenen Abgeordneten und unserer noch abgehobeneren Ampel-Regierung nur dringend empfehlen, statt weiter unrealistische Klientelpolitik gegen die Bevölkerung zu betreiben, sich deren realen, existentiellen Problemen zuwendet, eigene Privilegien reduziert, Vermögende und Unternehmen angemessen an den Steuern beteiligt, und wieder dazu übergeht, eine sozial ausgewogene Politik zu betreiben, einschließlich der Reanimierung der guten alten sozialen Marktwirtschaft.

Das noch immer vorläufige Grundgesetz wird uns weder vor einer Revolution bewahren, noch in der Lage sein, das ziemlich aus den Fugen geratene Staatsgebilde zusammenzuhalten, noch die aufgebrachte Bevölkerung zu besänftigen. Ich kann nur empfehlen, endlich die längst überfällige Verfassungsdiskussion zu führen, das Grundgesetz anpassen und zu modifizieren, und anschließend die Wähler über eine hoffentlich gemeinsam akzeptable Verfassung abstimmen zu lassen. Dies wäre ein erster, sichtbarer Schritt hin zu einer notwendigen Veränderung, eine überfällige Reaktion von Politik und öffentlichem Dienst auf die gesellschaftlich wie sozial weit fortgeschrittene Zerrüttung innerhalb unseres gemeinsamen Staatswesens. Geschieht dies nicht freiwillig und relativ rasch prophezeie ich, dass der zunehmende Druck im Kessel zu einer unschönen Explosion führen wird, dessen Folgen und Ausgang dann nur schlecht beeinflussbar sein werden.

In meinen Augen hat das Grundgesetz gute Arbeit geleistet. Wären die politisch Verantwortlichen seinem Auftrag und Geist gefolgt, hätten wir seit dreißig Jahren eine gemeinsam, in Ost und West akzeptierte, den heutigen Anforderungen gerecht werdende Verfassung. Uns, den Bürgern und Wählern diese länger vorzuenthalten, uns unsere erforderliche Zustimmung, wie vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen, weiter zu verweigern, wird die angesprochenen Probleme verstärken, statt zu lösen. Deshalb appelliere ich an unsere Abgeordneten, auch und gerade jene aus dem öffentlichen Dienst, glaubt nicht, euch weitere 25, 50 oder gar 75 Jahre auf dem vorläufigen Grundgesetz ausruhen zu können. Es bedarf einer endgültigen, von der Bevölkerungsmehrheit akzeptierten und respektierten Verfassung. Wie gefährlich es sein kann, sich eine unfertige und durch Zusätze erweiterte Verfassung zu leisten, zeigen uns aktuell die bedrückenden Ereignisse in den USA. Soweit sollten wir es in Deutschland nicht kommen lassen. Lieber spät als nie: lasst uns das Grundgesetz hinter uns lassen und durch die darin vorgesehene endgültige Verfassung ersetzen. Ich bin überzeugt, dass das bisherige Grundgesetz gut genug ist, um den größten Teil einer künftigen Verfassung zu füllen. Doch angesichts der Entwicklung seit 1949, sowie den gemachten Erfahrungen mit den Verfassungsorganen des Grundgesetzes und der sie austarierenden Gewaltenteilung, wäre es sicher an der Zeit, das Verhältnis von Bürgern zu Parlament, Kanzler und Präsident zu modifizieren und unserer nunmehr dreiviertel Jahrhundert währenden Erfahrung mit Demokratie gerecht zu werden. Eine gewachsene und erwachsene Demokratie darf, nein muss sich plebiszitäre Elemente leisten. Diese würden die Bürger stärker einbinden und hätten das Zeug, Unzufriedenheit über Entscheidungen von Politik und Regierung anlässlich grundsätzlicher Probleme zu entschärfen.

Ich finde, es wird Zeit, den Slogan „Mehr Demokratie wagen“ mit neuem, verändertem Inhalt zu beleben. So wie der Slogan 1969 den Mief der restaurativen CDU Jahre vertrieb, einer sozial wie liberal ausgerichteten Erneuerung Platz machte, sollte er aktuell zur Rückbesinnung auf soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft wie deren Weiterentwicklung genutzt werden.

Titelbild: Tim Reckmann CC BY-NC 2.0DEED via FlickR

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