Von Dr. Mine Yıldız, Brüssel

(For English version click here)

Aus meiner Sicht als langjährige Mitarbeiterin im türkischen Parlament sowie als freie Journalistin, Bloggerin und Universitätsdozentin, markiert das Jahr 2020 einen grundlegenden Wandel unserer Gesellschaft, namentlich in neun Schlüsselbereichen.

  1. Herausforderung für eine anthropozentrische Denkweise: Seit dem 18. Jahrhundert mit seiner Aufklärung ist es Konsens, dass wir – Homo sapiens – der dominierende Akteur sind. Das Schicksal dieser Erde liegt in unseren – menschlichen – Händen, wir sind die Herren geworden, sind gar die Besitzer von Land, Meer und selbst von anderen lebenden Spezies. Es ist daher logisch, dass wir danach streben würden, auch die genetische Struktur von Pflanzen und Tieren zu verändern. Unsere gesellschaftliche Wahrnehmung ist, dass alles um uns herum für uns Menschen auf die effektivste Weise genutzt werden sollte. Einige Philosophen und ökologische Ideen stellen diesen anthropozentrischen Ansatz in Frage, sind aber nicht Mainstream. Dieses neue Virus – ein biologisches Wesen, das so mikroskopisch klein und für das menschliche Auge unsichtbar ist – taucht plötzlich auf und beeinflusst das gesamte menschliche Leben auf der ganzen Welt. Die Frage ist also: Wer ist der wahre Meister? Die Antwort lautet mit Sicherheit: Es ist nicht nur die Menschheit.
  2. Kandidat für ein “Schlüsseljahr” des 21. Jahrhunderts: Jedes Jahrhundert hat sechs oder sieben Jahre, die die wichtigsten Wendepunkte darstellen. Das letzte Jahrhundert bietet sechs Daten: 1914, 1918, 1939 und 1945 (Beginn/Ende der beiden Weltkriege), 1968 (weltweiter ziviler Ungehorsam) und 1989 (Ende des Kalten Krieges und Erfindung des www). 2020 ist sicherlich ein Kandidat, für eines dieser wenigen Schlüsseljahre, die dieses Jahrhundert prägen: Ein tödlicher Virus, der Wirtschaft, Globalisierung, Mobilität und Konsum herausfordert und sogar den allgemeinen Konsens herbeiführt, dass die Freizügigkeit vorübergehend durch eine freiwillige Einschränkung der Bewegungsfreiheit ersetzt werden muss.
  3. 2020 Jahr des “Schwarzen Schwans”: Da sich das Denken und Handeln des Mainstream so etwas wie die Auswirkungen von Covid-19 nicht vorstellen konnte, ist die Verwendung dieser Metapher gerechtfertigt. Ein Schwarzes-Schwan-Ereignis, beschreibt etwas, das schwer vorherzusagen ist, über die normale Erwartung hinausgeht und als Überraschung eine große Wirkung hat, die unsere Wahrnehmung der Realität erweitert.
  4. Covid-19 erste globale gemeinsame menschliche Erfahrung: Obwohl die Globalisierung uns einander näher gebracht hat und wir durch globale soziale Medien verbunden sind, lebten wir noch bis Anfang dieses Jahres in einer fragmentierten Welt. Es gab bisher kein Ereignis in der Menschheitsgeschichte, das von allen Menschen als etwas wahrgenommen wurde, das uns in einer wesentlichen Weise direkt berührt hat. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben wir mit Covid-19 eine global erlebte gemeinsame Erfahrung.
  5. Hamlet-Moment für die Europäische Union (EU): Einer der Hauptgründe für die Existenz der EU ist, im Falle einer (potentiellen) Gefahr zusammenzuarbeiten: Um einen weiteren Krieg zu vermeiden, um eine Finanzkrise zu bewältigen, um Umweltverschmutzung und Klimawandel zu bekämpfen usw. Aus diesem Grund wurden Kompetenzbereiche zwecks gemeinsamer Entscheidungsfindung und gemeinsamen Handelns auf Brüssel übertragen. Zentrale Elemente wurden installiert, wie Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Bürgern sowie strenge Finanzregeln – und jetzt das: geschlossene Grenzen, finanzielle Verpflichtungen in Billionenhöhe (spät, aber sie kamen) … Wie in der Welt von Shakespeare steht die EU nun vor der Frage “Sein oder Nichtsein” – wird es genug interne Solidarität geben, um zu überleben?
  6. Ein “Vor 2020” und ein “Nach 2020”: Die Veränderungen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind (und diejenigen, die in naher Zukunft kommen werden), sind so enorm, dass wir die einzigartige Möglichkeit haben, die Zukunft zu gestalten, die wir erstreben: Unilateralismus/Nationalismus vs. Multilateralismus, lineare Wirtschaft vs. Kreislaufwirtschaft, Kohlenwasserstoffe vs. erneuerbare Energien, der Status Quo vs. Europäischer Grüner Deal nach Ursula von der Leyen, Egoismus vs. Solidarität.
  7. High Noon für „Bad boys”: Für autokratische Strukturen (Diktatoren und andere) auf der ganzen Welt besteht die Versuchung, die gegenwärtige Krise zu nutzen, um den Druck auf die Opposition und/oder die Zivilgesellschaft zu erhöhen – sie hoffen, dass die Medien und die internationale Gemeinschaft den Menschenrechtsverletzungen weniger Aufmerksamkeit schenken. Auch für unsere rechtsstaatlich orientierte Gesellschaft müssen die Sonderregelungen provisorisch sein und nur so lange wie nötig gelten – der ungarische Ministerpräsident sollte nicht unser Vorbild sein.
  8. Weniger Umweltverschmutzung: Menschliche Aktivitäten (insbesondere Industrie und Verkehr) verursachen Umweltverschmutzung, schädigen die Umwelt und verursachen weltweit rund sieben Millionen Todesfälle – bisher das weltweit größte Einzelrisiko in Bezug auf umweltbedingte Gesundheitsrisiken. Die Beschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19 haben die Emissionen verringert (und werden sie weiter verringern) und werden daher sogar zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen.
  9. Wir in der “westlichen Welt” sind privilegiert: Auf den ersten Blick kann die Welt beängstigend erscheinen – Infektionen mit dem Virus, Einschränkungen im öffentlichen/privaten Leben und mögliche Arbeitslosigkeit – aber wir alle leben in einem Teil der Welt mit einem funktionierenden Gesundheitssystem ( grundsätzlich). Für Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze, Binnenvertriebene in Nordsyrien oder im Jemen, einen inhaftierten Gefangenen, eine Familie in einem Slum in Delhi, in einer Favela in Rio oder in einem Dorf in Kivu gibt es weder ein anständiges soziales Netz noch eine wirksame Gesundheitsversorgung.

* Dieser Artikel wurde in der “The Brussels Times” (29.05.2020) veröffentlicht. The Brussels Times ist heute Belgiens größte englischsprachige Nachrichtenwebsite. 

Übersetzung: Jürgen Klute

Titelbild: Martha Maocha runs a detergent manufacturing company but has recently started making hand sanitising gel which protects against Covid19.
Bulawayo, 24 April 2020. By KB Mpofu / ILO CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...

… Wenn Ihnen / Euch Europa.blog gefällt, dann können Sie / könnt Ihr uns gerne auch finanziell unterstützen. Denn auch der Betrieb eines Blogs ist mit Kosten verbunden für Recherchen, Übersetzungen, technische Ausrüstung, etc. Eine einfache Möglichkeit uns mit einem kleinen einmaligen Betrag zu unterstützen gibt es hier:

Buy Me a Coffee at ko-fi.com

Autorinnen-Info

Biographie Dr. Mine Yildiz, Koordinatorin Naher Osten, Freie Universität Brüssel

Mine Yildiz hat einen Doktortitel in Politikwissenschaft (Hacettepe-Universität, Ankara, Türkei). Sie wuchs im westlichen Teil Anatoliens in einer Familie von GewerkschaftsführerInnen auf und war die erste Frau ihrer Familie, die eine Universität besuchte.

Foto: private

Sie studierte 1990-1992 Soziologie an der Cumhuriyet-Universität in Sivas und wechselte an die renommiertere Hacettepe-Universität, wo sie 1994 ihren Bachelor erhielt. Da sie entdeckte, dass Politik ihre Leidenschaft ist, wechselte sie 1995 an die Universität Gazi, um einen Master in öffentlicher Verwaltung, Politik- und Sozialwissenschaften zu erwerben. 1995-1997 arbeitete sie als Forschungsassistentin an der Universität Cumhuriyet und ab 1997 als Assistentin im türkischen Parlament. Nach einem Master-Abschluss im Jahr 2001 begann sie mit ihrer Promotion und arbeitete achtzehn Jahre lang als Assistentin für (insgesamt acht verschiedene) Parlamentsabgeordnete der türkischen sozialdemokratischen Parteien (DSP, CHP).

Um einen breiteren politischen Wirkungskreis zu erreichen, begann sie, Zeitungsartikel zu schreiben (BirGün, Brusselstimes, Cumhuriyet, europa.blog, Haber Sol, İleri Haber, Mülkiye Haber). Im Jahr 2009 erhielt sie ihren Doktortitel (thema ihrer Doktorarbeit: Vergleichende Analyse von Parlamentsassistenten im türkischen Parlament, Türkiye’de Yasama İşlevi Açısından Milletvekili Danışmanlığı).

2013-2014 lehrte sie an der Universität Ankara Başkent an der Fakultät für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen (Kommunikation und Politik). 2016 zog sie mit ihrer Tochter nach Belgien. Derzeit ist sie Gastdozentin am IES der VUB und seit 2019 assoziierte Wissenschaftlerin (mit Schwerpunkt auf den Einfluss und die Auswirkungen der Türkei auf Parlamentsmitglieder mit Migrationshintergrund in den EU-Ländern). Seit 2020 ist sie zudem  Koordinatorin für den Nahen Osten an der Diplomatische Akademie Brüssel (BDA), VUB.

2019 war sie eine von acht Empfängerinnen des “European International Women’s Leadership Award”, der im Europäischen Parlament überreicht wurde.

5354