Von Frederik D. Tunnat

Nachdem wir, wie es aktuell scheint, die erste Angriffswelle des neuartigen Virus weitgehend hinter uns gebracht haben, die zahlreichen Beschränkungen und Restriktionen schrittweise aufgehoben werden, und ein gewisse Form von „normalem“ Leben wieder möglich zu werden scheint, halte ich es für angebracht, eine vorsichtige, erste Bilanz zu ziehen.

Das Virus, sowie die durch es ausgelösten Maßnahmen und Reaktionen, hat es fertig gebracht, was kaum Jemand für möglich gehalten hätte: es erzwang, nahezu weltweit, ein Herunterfahren wichtiger Wirtschaftsbereiche, begrenzte unsere verfassungsmäßig garantierten Grundrechte in nie dagewesener Weise, zwang uns, uns in unseren Wohnungen und Häusern zu verkriechen, unterband nahezu jegliche sozialen Kontakte, jegliche außerhäusigen Aktivitäten, stoppte den globalen Warenaustausch, jegliche Form des Reisens und Urlaubens, kurzum, das Virus bzw. die Furcht vor ihm, erzwang einen Stillstand nie gekannten Ausmaßes, ein Zurückdrehen all dessen, was die sog. Globalisierung ausmacht und für deren Vorteile gehalten wird.

Mittlerweile zählen wir, bei anhaltender, jedoch abklingender Pandemie, fast 3,7 Millionen Infizierte und bald 255.000 Tote, weltweit. Meine persönliche Schätzung geht dahin – sollten die inzwischen erfolgten und erfolgenden Aufhebungen der Vorsichtsmaßnahmen nicht eine zweite, größere Infektionswelle auslösen – dass vor dem weitgehenden Abklingen dieses ersten Auftretens des Virus, wir ca. 4,5 Millionen Infizierte und über 300.000 Tote sehen werden, bevor der Sommer diesen Jahres 2020 richtig begonnen hat.

Wie stets im Leben, bringen starke, existentielle Bedrohungen bei uns Menschen unsere wahre, unverstellte Persönlichkeit hervor. Das sahen wir an den individuellen Reaktionen von Politikern weltweit. Während die hysterisch-schizophrenen, diktatorisch veranlagten Politiker vom Schlag eines Orban, Kaczyński, Trump, Bolsonaro und Co. das Virus dazu nutzen, ihre Macht zu erweitern, die demokratischen Institutionen zu entmachten, sowie die Rechte der Bevölkerung teils eklatant zu beschränken, sowie die Krisen-Phase, während der ihnen nahezu vollständige Vollmacht zugewachsen ist, für fragwürdige Eigeninteressen, gegen die Interessen ihrer Staaten und Bevölkerung gerichtet nutzen, zeigen sich, speziell westlich demokratische Politiker, völlig unvorbereitet, schlecht organisiert und wenig kompetent bzw. entscheidungsfreudig, um zum frühestmöglichen Zeitpunkt notwendige Maßnahmen einzuleiten und – was am Wichtigsten wäre – persönliche Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Stattdessen verstecken sich unsere Politiker hinter Virologen und Immunologen, Ärzten und Wissenschaftlern, schicken die vor, dem Volk unangenehme Wahrheiten zu erklären und zu verkaufen, um ja stets die Möglichkeit zu haben, später Verantwortung von sich zu weisen, und ungewählte Mitbürger, deren Hilfe und Informationen sie benötigten, eiskalt als Bauernopfer über die Klinge der öffentlichen Meinung springen zu lassen.

Noch gefährlicher und geradezu bösartig erweist sich die nationalistische Klaviatur, der sich, speziell im unendlich zersplitterten Europa, Politiker zahlreicher Länder skrupellos bedienten. Da gerieren sich die Nachkommen der ersten europäischen Faschisten, Mussolini regierte immerhin bereits ab 1922 in Rom, als Opfer des Hitler’schen Faschismus. Schlagen dumm-dreist und bedenkenlos verbal auf die Nachkommen jener nationalistischen Unmenschen ein, mit denen sie über mehr als 11 Jahre einvernehmlich gemeinsame Sache machten. Dies innerhalb einer Europäischen Union, die Deutsche und Italiener seit 1957 über die Römischen Verträge gemeinsam ins Leben riefen, und an deren Ge- und Ausgestaltung beide Völker und Länder seit nunmehr 63 Jahren gemeinsam arbeiteten.

Was seitdem an „solidarischem“ Geld aus Deutschland direkt und indirekt via Brüssel nach Italien geflossen ist, lässt sich wegen der zahlreichen Nullen, aus denen diese Zahl besteht, kaum in einer Zeile ausschreiben. Und dennoch dient der Anlass einer gemeinsam erlittenen Pandemie dazu, den Bündnispartner und angeblichen EU-Freund, den Partner einer gemeinsamen Währung, aufs Übelste zu diffamieren, um ihn dazu zu nötigen – Drohungen, Unterstellungen und nationalistische Ausfälle und das Schüren von Vorurteilen sind dabei besonders hilfreich – die in jenen gemeinsamen Jahren, trotz hoher finanzieller Unterstützung aus Deutschland angehäuften aberwitzigen Staatsschulden auf die als Nazis dargestellten deutschen „Untermenschen“ abzuwälzen.

An dieser Stelle braucht Niemand mit jedweder Argumentation von Solidarität, Verantwortung, und welch hübsche Vokabeln die Befürworter der Schuldübernahme sämtlicher europäischer Schulden durch Deutschland sonst noch anführen, zu kommen: bevor man die Schulden eines Anderen übernimmt, muss einem auch das recht und die Möglichkeit eingeräumt werden, deren Aufbau, Entstehung wie Abbau MITBESTIMMEN zu können. Das ist vergleichbar einer ganz normalen Ehe: nach der Heirat ist man gesamtschuldnerisch tätig, sofern ein Ehevertrag nicht Anderes regelt.

Auf die EU und den Euro bezogen, sowie die in Eigenverantwortung aufgebauten Schuldenberge, bedeutet dies: alle Länder, einschließlich Italien, Frankreich und Deutschland hätten ihre finanzpolitische Zuständigkeit, die heute bei den nationalen Parlamenten und Regierungen liegt, an einen gemeinsamen Finanzminister einer europäischen Regierung und eines voll budgetverantwortlichen EU-Parlaments abzutreten. Anschließend wäre die Frage der gemeinsamen Schulden eindeutig geklärt, man würde für diese gemeinsam haften und sie gemeinsam abbezahlen.

Doch auf nationale Zuständigkeit und Verantwortung beim Schuldenmachen zu pochen, nur beim Haften und Abzahlen nach Solidarität und gemeinsamer Verantwortung zu schreien, und dies noch mit üblen Schmähungen und falschen Unterstellungen erreichen zu wollen, trägt nicht dazu bei, die EU und den Euro zu stärken – im Gegenteil: so baut man neue Ressentiments auf und treibt gemeinsame Institutionen und gemeinsame Währung auseinander.

Nationalismus ist ein überaus schlechter Ratgeber und eine völlig ungeeignete Medizin, um einen gemeinsamen Feind, wie das Corona-Virus, wirkungsvoll zu bekämpfen. Sich bei dessen Bekämpfung mit geschlossenen Grenzen, nationalem Stehlen und Wegkaufen oder Horten von Schutzmaterial und Medizin gegenseitig zu behindern, war kindisch und kontraproduktiv. So, meine Herren europäisch-nationale Politiker, bekämpft man keine Pandemie, so sorgt man allenfalls für die eigene Wiederwahl.

Die ersten Erkenntnisse aus dem, was das Virus angerichtet und ausgelöst hat, sollten daher sein, das nationalistische Gehabe und Handeln zu unterlassen, und wirklich gemeinsam zu agieren. Anders ist ein so heimtückischer Feind nicht zu besiegen. Außerdem sollten schnellstens aus der Tatsache Konsequenzen gezogen werden, dass die bisherige globale Arbeitsteilung nicht funktioniert, angesichts einer weltweiten Bedrohung, aber national kleinkariertem Handeln. Es ist deutlich geworden, dass es einer Reihe von industriellen Kapazitäten im eigenen Land bedarf, um angemessen und schnell auf künftige Bedrohungen dieser Art reagieren zu können, und vor allem, um nicht erpressbar zu werden, von einem autoritären System wie dem chinesischen.

Das macht es auch erforderlich, von der just in time Produktion zurück zu kehren, zu Produktions- und Warenkreisläufen, die auch dann aufrecht erhalten werden können, wenn ein weltweites Problem den Kreislauf, wie gerade geschehen, über Monate unterbricht. Die Idee einer globalen Werkbank in China ist damit gescheitert, hat sich eindrucksvoll selbst ad absurdum geführt.  Sollten unsere agierenden Politiker diese Lektion nicht verstanden haben, sollten die Wirtschaftsbosse nicht entsprechend handeln, dann sollten wir schnell neue Politiker und neue Bosse wählen, die die  richtigen Schlüsse aus den Ereignissen ziehen. Der Fetisch des höchstmöglichen Gewinns bei gleichzeitig geringst möglichem Einsatz lässt sich nicht mehr propagieren und fortsetzen.

Die Globalisierung ist dank Virus buchstäblich „auf die Schnauze“ gefallen. Dies nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern rasch und effizient daraus zu lernen und umzusteuern, wird das Gebot der nächsten Monate und Jahre sein. Die Welt wird nicht mehr so sein können wie zuvor, sie wird und muss sich transformieren. Falls dies umfassend, mit der nötigen Konsequenz und schnell genug geschieht, hatten all die Einschränkungen und die zahlreichen, unnötigen Toten hoffentlich doch einen tieferen Sinn gehabt: wach zu rütteln, uns einen Spiegel vorzuhalten und aufzuzeigen, was  falsch gelaufen ist.

Es ist jedoch zu befürchten, dass besonders die bisherigen Profiteure der ungebremsten Globalisierung, alles darauf anlegen, schnell und vollständig zu den Vor-Pandemie Zuständen zurückzukehren, da nur eine Beibehaltung all der zu Tage getretenen Fehlentwicklungen innerhalb der globalisierten Wirtschaft ihnen weiterhin ungeschmälerten Reichtum auf Kosten des größten Teils der Menschheit bescheren wird. Bei diesem Unterfangen können diese Globalisierungs-Profiteure auf die erwähnten Politiker zählen, die ihnen willfährig zu Dienst sein werden, um ihr Stück vom großen Kuchen abzubekommen, und um sich in ihrer angemaßten, unumschränkten Macht zu sonnen.

Es liegt an uns als Steuerzahlern und Wahlbürgern dies in möglichst vielen Ländern der EU, möglichst auch weltweit, zu verhindern.

Titelbild: Covid-19, by Prachatai CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

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