Maximilian Steinbeis ist Gründer und Herausgeber des Webportals Verfassungsblog. Weiterhin ist er Jurist, Schriftsteller und Journalist sowie Mitgründer der kollaborativen Publikationsplattform für unabhängigen professionellen Journalismus RiffReporter.

In dem folgenden Beitrag schildert Steinbeis seine Eindrücke von einer Reise nach Bosnien-Herzegowina. Eine englischsprachige Version dieses Beitrags wurde unter dem Titel “Special Edition: South of the Border” am 13. April 2019 auf dem Verfassungsblog veröffentlicht. Die folgende deutschsprachige Version wurde über den Newsletter des Verfassungsblogs vom 14. April 2019 veröffentlicht. Die Veröffentlichung auf Europa.blog erfolgt mit Zustimmung von Maximilian Steinbeis.

Beitrag von Maximilian Steinbeis

Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina ist bekanntlich unter höchst eigentümlichen Umständen entstanden, nämlich als Bestandteil eines internationalen Friedensvertrags, des Dayton-Abkommens von 1995, unterschrieben von den damaligen Staatsoberhäuptern von Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina und bezeugt und überwacht von der internationalen Staatengemeinschaft. Die Folge davon ist zum einen, dass sich die ehemaligen Kriegsparteien als „konstitutierende Völker“ in der Verfassung wiederfinden: Dies ist ein Staat dreier Ethnien und nicht ein Staat von dreieinhalb Millionen freier und gleicher Bürger_innen. Das bosnische Verfassungsgericht hat 2000 die gleiche Repräsentation der drei Ethnien zu einem alle staatlichen und substaatlichen Ebenen überwölbenden Grundprinzip der bosnischen Verfassung erklärt. Damit ist jede politische Auseinandersetzung vorformatiert als Streit darum, ob die Serben/Kroaten/Bosniaken zu viel oder zu wenig zu sagen haben. Es wirft politisch keinen Ertrag ab, Vorschläge für die Lösung der zahlreichen und wirklich dramatischen Probleme dieses Landes zu entwickeln. Parteien und Politiker werden dafür gewählt, dass sie ihrer jeweiligen Ethnie Schutz gegen die anderen zwei und ein möglichst großes Stück vom Staatskuchen in Gestalt von Jobs und Aufträgen versprechen. Darauf ist das gesamte institutionelle Setup des Landes ausgerichtet.

Dass die bosnische Verfassung in Dayton entstanden ist und nicht in Bosnien, bedeutet obendrein, dass die internationale Staatengemeinschaft das Funktionieren des Kompromisses einfordert und nötigenfalls durchsetzt. Das tut sie in Gestalt eines Hohen Repräsentanten, der in Sarajevo in einem hoch ummauerten UN-Gebäude in der Nähe der Vrbanja-Brücke residiert und theoretisch über geradezu diktatorische Machtbefugnisse verfügt, vom Erlass von Gesetzen über die Absetzung von Staatspräsidenten bis zur Annullierung von Verfassungsgerichtsurteilen. Der aktuelle Amtsinhaber, ein melancholisch dreinblickender älterer Herr aus Österreich namens Valentin Inzko, hat aber von diesen Befugnissen schon seit über einem Jahrzehnt keinen Gebrauch mehr gemacht. Selbst wenn er wollte, würde ihm dazu wohl auch der nötige Rückhalt in der Staatengemeinschaft fehlen. „Local ownership“ heißt seit gut zehn Jahren die Devise: Bosnien soll erwachsen werden und selbst für sein Tun und Lassen Verantwortung übernehmen.

Diese Politik bewirkt aber bislang das genaue Gegenteil. Bosnien wird immer weniger erwachsen und übernimmt immer weniger Verantwortung für sich selbst. Inzko sollte ursprünglich nur mehr ein halbes Jahr bleiben, dann sollte das Dayton-Abkommen umgesetzt sein und die internationale Präsenz abgewickelt werden. Es wurde ein Jahrzehnt daraus, und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Misere hat seinen Grund ja nicht im schlechten Charakter der politischen Akteure (der ist eher ihre Wirkung) und schon gar nicht in irgendwelchen kulturell-historischen Besonderheiten der Region nach dem Motto „so isser halt, der Balkan“, sondern in der Verfassung. Dieses Land ist konstitutionell auf Dysfunktionalität und Korruption programmiert. Die Staatengemeinschaft hat diese heillose Verfassung den Bosnier_innen hingestellt, und jetzt, wo sich ihre Folgen zeigen, will sie nichts mehr damit zu tun haben. Dass die Bosnier_innen, und zwar gerade die Jungen, gut Ausgebildeten, Hoffnungsvollen, die gleiche Konsequenz ziehen und zu Zehntausenden nach Deutschland, Österreich, Irland, Schweden und die USA auswandern, ist ebenso fatal wie  folgerichtig.

Irmas Geschichte

Irma Baralija ist Lehrerin in Mostar, einer Stadt 70 km südwestlich von Sarajevo, bekannt als Touristenziel wegen seiner spektakulären Osmanenbrücke über die Neretva. Sie hat ein kleines Kind von eineinhalb Jahren und einen Mann, der als Softwareingenieur überall einen Job finden könnte. Ihr fallen mindestens sechs Freunde ein, die sich bereits ein Arbeitsvisum für Deutschland verschafft haben. Vor allem Familien mit kleinen Kindern, so wie ihre. „Wenn man allein ist, dann kämpft man für sich. Aber wenn du ein Kind hast, dann kriegst du es mit dem System zu tun.“ Das Kind braucht einen Arzttermin: Den kriegt nur, wer zahlt. Das Kind kommt in eine Schule, in der die Lehrerjobs als Gunst der machthabenden Partei unter ihren Anhängern verteilt werden und die Kinder nationalistischer Gehirnwäsche unterzogen werden. „Ich habe das alles überlebt“, sagt Irma, „aber ich will ein besseres Leben für mein Kind.“

Vor fünf Jahren, als in Bosnien überall die Bürger_innen auf die Straße gingen und protestierten, war Irma mit dabei. Mostar war im Krieg Schauplatz schrecklicher Kämpfe gewesen, als die kroatischen Truppen Granaten auf die osmanische Altstadt regnen ließen und die berühmte Neretva-Brücke in Trümmer schossen. Seither ist die Stadt ethnisch geteilt in einen kroatischen West- und einen muslimischen Ostteil. Aber die Stadtverwaltung samt Bürgermeister ist in der Hand der kroatischen Nationalistenpartei HDZ, die die westliche Herzegowina aus der bosniakisch-kroatischen Föderation herauslösen und zu einer eigenen „Entität“ machen wollen mit Mostar als Hauptstadt. (Der korrekte Begriff für die zwei Landesteile, die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht Staat heißen dürfen, ist tatsächlich: „Entität“.)

Irma will etwas ändern. Sie will in den Stadtrat. Aber sie kann nicht. Denn es gibt keinen Stadtrat. Schon seit sieben Jahren nicht. 2008 hatte der damalige Hohe Repräsentant Paddy Ashdown für Mostar eine spezielle Kommunalverfassung angeordnet, wonach die Stadt in sechs Bezirke aufgeteilt werden sollte, die jeweils eine gleiche Anzahl Abgeordnete in den Stadtrat wählen. Dagegen klagten die Kroaten vor dem Verfassungsgericht und bekamen Recht: Ashdowns Statut war nichtig, und das Parlament in Sarajevo hätte das Wahlgesetz entsprechend ändern müssen. Was aber nicht geschah. Die Amtszeit des 2008 gewählten Stadtrats ist 2012 ausgelaufen. Seither gibt es – mangels Gesetz, nach dem er gewählt werden könnte – überhaupt keinen Stadtrat mehr. Der HDZ-dominierten Stadtverwaltung kommt das gerade recht, denn so kann sie das städtische Budget von rund 30 Millionen Euro unkontrolliert und ohne jede Transparenz unter ihren Leuten verteilen. Dafür wird Irma Baralija mit gut 100.000 anderen Bürger_innen dieser Stadt um ihr aktives und passives Wahlrecht gebracht.

Irma unterrichtet am United World College in Mostar, einer internationalen Schule, in der Schüler_innen aus Bosnien und aus aller Welt das International Baccalaureate ablegen können. Nirgendwo sonst würde sie, die weder mit der HDZ noch mit der bosniakischen Nationalistenpartei SDA im Bund steht, in Mostar noch einen Job finden, sagt sie. Über das UWC kam Irma aber mit einer Rechtsanwältin in Kontakt, Mutter eines ihrer Schüler, und die nahm sich der Sache an. Jetzt klagt Irma vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bei den Parlamentswahlen im letzten Oktober war sie für die neue multi-ethnische Partei Naša Stranka angetreten und hatte genügend Stimmen bekommen, um glaubhaft machen zu können, dass ihre Bewerbung für den Stadtrat erfolgreich wäre. Das könnte tatsächlich klappen.

Und wenn es klappt? Irma gibt sich da keinen Illusionen hin. „Wenn ich diesen Fall gewinne, wird das überhaupt nichts ändern. So ein Urteil bedeutet überhaupt nichts in diesem Land. Aber ich will, dass endlich darüber geredet wird, was hier passiert!“

Perpetuierte Rechtswidrigkeit

Seit sieben Jahren dauert die Verfassungskrise in Mostar an, doch sie ist nur eine von vielen, die das politische System Bosniens in den letzten Jahren produziert  hat. Das prominenteste Beispiel ist das EGMR-Urteil Sejdić und Finci aus dem Jahr 2009, in dem der Straßburger Gerichtshof festgestellt hat, dass die bosnische Verfassung die EMRK verletzt: Der dreiköpfigen Staatspräsidentschaft kann nach der Verfassung nämlich nur angehören, wer sich als Kroate, Serbe oder Bosniake identifiziert. Das diskriminiert Juden, Roma und alle Bürger_innen Bosniens, die sich nicht ethnisch vereindeutigen lassen wollen oder können. Seither ist Bosnien noch dreimal aus den gleichen Gründen in Straßburg verurteilt worden. Vor allem die Kroaten pochen darauf, dass auf jeden Fall immer ein Kroate im Staatspräsidium vertreten sein muss, und blockieren daher jede Änderung dieses Zustands perpetuierter Rechtswidrigkeit. Kein Mensch glaubt, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.

Generell gibt es immer mehr Urteile auch bosnischer Gerichte, die einfach ignoriert werden. Die perpetuierte Rechtswidrigkeit hat längst auch die Institutionen des Staates selbst infiziert: 2016 erklärte das bosnische Verfassungsgericht das Wahlverfahren für die zweite Kammer der bosnisch-herzegowinischen Föderation für verfassungswidrig. Auch dieses Urteil ist nicht umgesetzt. Die Wahlen vom letzten Oktober fanden insoweit auf verfassungswidriger Grundlage statt. In der Republika Srpska ist das Ignorieren von Urteilen des zentralstaatlichen Verfassungsgerichts zu einer erfolgreichen Mobilisierungs- und Machterhaltungsstrategie der sezessionistisch-kriminellen Nationalistenpartei SNSD unter Milorad Dodik geworden.

Wenn es einen Akteur gibt, der sowohl das nötige Interesse als auch die nötigen Druckmittel besitzen sollte, die perpetuierte Rechtswidrigkeit in Bosnien zu beenden, dann ist das die Europäische Union. Die Beitrittsperspektive ist das Einzige, worauf sich quer durch alle Ethnien und Interessen alle bosnischen politischen Kräfte einigen können. Um so größer ist die Enttäuschung der Bosnier_innen darüber, wie nachlässig die EU mit ihren Möglichkeiten umgeht. Alle unsere Gesprächspartner_innen waren sich einig in ihrer maßlosen Enttäuschung über die EU – nicht etwa, weil sie ihre Beitrittskriterien zu streng handhabt, sondern im Gegenteil, weil sie die bosnischen Politiker viel zu billig davon kommen lässt. Nicht einmal auf die Umsetzung des Sejdić/Finci-Urteils des EGMR bestehe die EU mittlerweile mehr. „Bosnien will EU-Mitglied werden, aber 100.000 Bürgerinnen und Bürger von Mostar genießen nicht mal die grundlegendsten demokratischen Rechte?“, sagt Irma Baralija. Anstatt die bosnischen Politiker immer aufs Neue zu den immer wieder gleich fruchtlosen Gesprächen nach Brüssel zu empfangen und ihnen die Gelegenheit zu schönen Fernsehbildern zu Hause zu geben, sollte sie sagen: Bringt das in Ordnung, sonst ist der Beitrittsprozess zu Ende. „Es gibt einfach Sachen, die sind in Europa im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptabel“, sagt auch der Menschenrechtsanwalt Nedim Ademović. Ob ein Gerichtsurteil vollzogen werden muss oder nicht, sei nicht etwas, worüber man sprechen könne. „Das ist nicht fair gegenüber den Bürgern von Bosnien-Herzegowina“.

Die perpetuierte Rechtswidrigkeit in Bosnien ist übrigens auch für die EU selbst schon längst nicht mehr nur eine Frage der Moral. Im Januar sorgte ein Onlinemagazin aus Sarajevo mit einer Undercover-Recherche für Aufsehen, die bewies, dass jeder, der 1250 Euro auf den Tisch legt, von einer staatlich anerkannten Bildungseinrichtung binnen 17 Tagen ein Zeugnis zur Umschulung zum Krankenpfleger ausgestellt bekommt. Kein gefälschtes Zeugnis, wohlgemerkt. Ein echtes. Mit dem man in Deutschland problemlos ein Arbeitsvisum kriegt. Pflegekräfte sind gesucht in Deutschland. Wie viele Bosnier_innen, die in Deutschland Alte und Kranke pflegen, ihren Beruf wirklich gelernt haben? Tja, wenn man das mal so genau wüsste. „Wollen wir Rechtsstaatlichkeit exportieren oder Kriminalität importieren?“, sagt Valentin Inzko, der Hohe Repräsentant. „Wir müssen uns entscheiden.“

Jasmins Geschichte

Bosnien ist nicht in der EU. Aber es ist auch nicht nicht in der EU. Es ist irgendwo dazwischen – eine Art EU-Grenzmark, nicht drinnen und nicht draußen, ein finanziell und politisch abhängiges Territorium, auf dem und durch das die EU ihre Außengrenze reguliert. Was das bedeutet, kann man nirgends besser studieren als in Bihać, einem kleinen, idyllisch am blitzeblauen Fluss Una gelegenen Städtchen im äußersten Nordwesten des Landes. Bosnien ragt wie ein keilförmiger Trichter in das EU-Mitglied Kroatien hinein, ganz nahe an die Schengen-Grenze zu Slowenien.  Bihać sowie das etwas weiter nördlich gelegene Velika Kladuša sind die Mündung dieses Trichters. Hier trifft, seit Ungarn und Kroatien ihre Grenze zu Serbien dicht gemacht haben, die Balkanroute auf die EU-Außengrenze.

Bevor wir nach Bihać aufbrechen, treffen wir in einem Café an der Marschall-Tito-Straße Jasmin Hasić, einen jungen Politikwissenschaftler aus Sarajevo. Seine Mutter und Großmutter leben in Bihać, sein Bruder ist dort Staatsanwalt. Er soll uns erzählen, wie die Mündung des Trichters aus der Perspektive derer aussieht, die dort leben.

Im letzten Jahr, erzählt Jasmin, sei die Stimmung in Bihać gegenüber den Migranten noch überwältigend positiv gewesen. Es war Sommer, bei der Fußball-WM sei das nahe Kroatien von Sieg zu Sieg geeilt, es war obendrein Ramadan, wo man ohnehin freundlich ist zueinander. Niemand habe sich große Sorgen gemacht über die Zelte in den Parks und die vielen Familien mit den niedlichen Kindern, die plötzlich auftauchten und plötzlich wieder weg waren. Im Herbst seien dann die Wahlen gewesen, da habe man sich auch um anderes gekümmert.

Dann aber kam der Winter. Es kann sehr kalt werden im Bihać, in den Plješevica-Bergen in Richtung Kroatien schmilzt der Schnee erst im späten Frühjahr. Die Migranten seien nicht länger in den Parks und verlassenen Gebäuden geblieben. Sie seien in Häuser eingebrochen. Seine Mutter habe plötzlich, wenn sie morgens zur Arbeit ging, ein Dutzend schlafende Männer in ihrem Hausflur vorgefunden. Die Migranten hätten mitten in der Stadt Feuer gemacht, um sich zu wärmen. Dann die Geschichte mit der Ente: Bihać mit seiner zauberhaften Flusslandschaft ist sehr stolz auf seine Enten. Eine sei gefangen, geschlachtet und gebraten worden von Migranten, berichtete das lokale Fernsehen.

Die Stimmung sei gekippt, sagt Jasmin. Die Stadt sei gespalten in einen Teil, der sich fürchte, und einen Teil, der profitiere. Friseure, Cafés, Bäckereien, die Migranten bedienen, würden von den Einheimischen gemieden und umgekehrt. „Meine Mutter traut sich überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Sie ist in den 60ern, und ihre eigene Mutter lebt bei ihr, die ist 85.“ Sie finde immer noch jeden Morgen zehn fremde Männer in ihrem Flur. Vom fernen Sarajewo habe Bihać keine Hilfe zu erwarten. Kein Mensch im Rest Bosniens interessiere sich für das Problem. In Velika Kladuša sei immerhin die Lage noch viel schwieriger – und die Solidarität innerhalb Bosniens noch viel geringer. Die Bewohner dieses entlegenen Teils des Landes seien in Bosnien sowieso eine Art Parias, da im Krieg die dortige muslimische Miliz mit den Serben gemeinsame Sache gegen die eigenen Glaubensbrüder gemacht hatte.

Ist die Grenze zu Kroatien dicht? Ist die Trichtermündung verstopft? Das glaubt Jasmin nicht. Sonst müssten sich die Migranten ja stauen in Bihać, und das tun sie nicht, ihre Zahl liege ziemlich stabil bei 5-7000. „Sie kommen irgendwie rüber, niemand weiß wie.“ Manche, sagt Jasmin, vermuten des Rätsels Lösung in dem Tunnelsystems des riesigen, verlassenen Militärflugfelds, den Tito einst in den Bergen oberhalb von Bihać hatte anlegen lassen – eine gigantische unterirdische Anlage wie aus einem James-Bond-Film, die in der Tat genau auf der bosnisch-kroatischen Grenze liegt. Die jugoslawische Armee hatte die gesamte Anlage bei ihrem Abzug zu Beginn des Krieges sprengen lassen. Aber wer weiß, sagt Jasmin. Vielleicht gebe es geheime Zugänge, zugänglich vom Keller irgendeines äußerlich völlig unauffällligen Hauses in Bihać, und ebenso in Željava auf der kroatischen Seite, ähnlich wie die getarnten Zugänge zu Titos gigantischem Atombunker? Bihać war zu jugoslawischen Zeiten eine große Garnison der Luftwaffe; vielleicht gebe es zwei, drei Leute, die über solche geheimen Zugänge, sofern es sie denn gibt, noch Bescheid wissen? Wer weiß?

Khaleds Geschichte und Diaas und Nizars Geschichte und Husseins Geschichte

Am Stadtrand von Bihać, gegenüber von den örtlichen Sportanlagen, gibt es einen kleinen Park, ein Föhrenwäldchen, und darin ein großes, aus Beton und unverputzten Hohlziegeln gemauertes Gebäude, das einmal ein Studentenwohnheim gewesen war. In diesem Park und in diesem Gebäude hatten sich viele der Flüchtlinge und Migranten, die im letzten Sommer nach Bihać gekommen waren, niedergelassen. Heute ist der Park schön aufgeräumt, die Zelte sind verschwunden und der Müll auch, das Gebäude ist einigermaßen in Stand gesetzt und wird von unter der Regie der IOM als Flüchtlingslager Borići betrieben.

In dem Park sitzt auf einer Bank ein schmaler Mann, vor sich ein Haufen Gepäck. Als wir ihn ansprechen, ruft er Iman herbei, seine 12-jährige Tochter, die auf dem Basketballfeld unterhalb des Parks mit anderen Kindern spielt und etwas Englisch kann. Nizar heißt er. Ein weiterer Mann namens Diaa kommt dazu und übernimmt die Kommunikation. Er kann vielleicht 20, 30 Wörter Englisch: „Bosnia no good“, erfahren wir. „Croatia police no good. Fight! Croatia Ali Baba!“ Diaa zeigt, wie sie ihm sein Mobiltelefon mit dem Fuß zertreten haben. Nizar und Diaa sind irakische Kurden, stellt sich heraus. Nizar hatte mit der Peshmerga gegen den IS gekämpft. Diaa zeigt mir eine Narbe auf seinem Kopf und macht Steuerbewegungen mit den Armen. Car! Boom! Daesh! Suicide bomber? Er nickt. „Arabic say: Kurds go!“ Wo die Mütter der Kinder seien? Diaa schüttelt den Kopf. „I don’t have mother“, sagt Nizars Sohn Haval, neun Jahre alt. Die letzten beiden Nächte haben die beiden Männer mit ihren Kindern auf dem Basketballfeld verbracht. „Bosnia no good. IOM no good. Irak good! Here no good.“ Wohin sie jetzt gehen werden? Zurück nach Serbien. „Serbia good. Give me clothes, give me food.“ Dann vielleicht Rumänien, fügt Nizar hinzu. Am Ende: Germany. „School for children“. Iman und ihr Bruder Haval lachen. „Only Germany!“

Weitere Flüchtlinge haben sich um uns versammelt, angelockt davon, dass sich jemand für ihre Geschichten interessiert. Ein junger Mann mit Wollmütze und gutem Englisch stellt sich als Hussein Hamiya vor, Palästinenser aus Homs in Syrien mit einem Master Degree in International Law aus Moskau. Drei Jahre sei er in Griechenland gewesen, dann sei sein Asylantrag abgelehnt worden. Sein Zwillingsbruder sei längst in den Niederlanden, vor einem Monat habe er die Staatsbürgerschaft erhalten. Er kann jetzt reisen, wohin er will. „He said: I will visit you. But I said: No!“

Khaled Alzrouny, Elektriker aus Irak, hat einen Cousin in Deutschland. Er ist seit drei Monaten im Camp Borići. In den letzten Tagen habe sich das Verhalten der Polizei in Bihać geändert, sagt er. Beim Einkaufen in der Stadt habe ein Polizist ihn aufgehalten und ihm befohlen, sofort ins Camp Borići zurückzukehren. „All refugees are criminal“, habe der Polizist gesagt. Es seien schon manche in der Stadt, die kriminell seien, Algerier, Marokkaner. Aber er doch nicht. Und sein Sohn Ali, 11 Jahre alt, auch nicht. Neulich habe er mit Ali einen Hamburger essen wollen. Der Restaurantbesitzer habe sie rausgeschmissen. Was soll er tun in Bosnien? Wo soll er hin?

13 Mal, sagt Khaled, hätten er und Ali versucht, über die Grenze zu kommen. Das letzte Mal vor 14 Tagen hätte es fast geklappt. Sie hatten Kroatien durchquert und Slowenien erreicht, nach zehn Tagen Fußmarsch. Alis Füße seien angeschwollen gewesen, sagt Khaled und zeigt mit den Händen: „big like this!“. 30 Kilometer hinter der slowenischen Grenze seien sie aufgegriffen worden. Die slowenische Polizei habe gesagt, sie würden in die Hauptstadt Ljubljana gebracht. Aber stattdessen seien sie gemeinsam mit 60 anderen – Algeriern, Marokkanern, Pakistanis – mit Hunden und Prügel in einen Bus gezwungen worden, der sie nach Kroatien zurückgefahren habe. Dort habe die Polizei sie wie Kriminelle fotografiert, ihnen Papiere und Telefone abgenommen, sie seien mit Stöcken geschlagen worden, hätten einen Fluss durchwaten müssen, und anschließend habe ein Polizist ihnen über das Wasser einen Beutel mit ihren Pässen und Telefonen zugeworfen, die Telefone allesamt zerstört. Damit waren sie wieder in Bosnien.

Das war rechtswidrig, sagt Hussein mit seinem Master of International Law. Das durfte die slowenische Polizei nicht, und das durfte die kroatische Polizei nicht. Er hat Recht. Das weiß hier jeder. Croatia no good. Croatia Ali Baba.

Während wir sprechen, verlässt ein Van das Camp, drinnen eine Frau und ein Mann, beide in lustigen Clownskostümen, und eine Horde Kinder läuft dem Auto hinterher. Drei Jungen klammern sich am Heckscheibenwischer fest. Der Wagen hält, die Clownsfrau auf dem Beifahrersitz steigt aus und schimpft, die Jungen laufen davon – einer davon, vielleicht fünf, direkt auf die Straße, fast einem vorbeifahrenden Auto vor die Stoßstange. Der Fahrer des Vans, die rote Clownsnase noch umgebunden, steigt aus, aschfahl im Gesicht, und stößt auf italienisch einen Fluch aus. Das war knapp.

Khaled macht mir unterdessen einen Vorschlag. Ich sei doch Journalist. Ich solle mir einen Rucksack packen und mit ihm loslaufen und selber sehen. Ja, das sollte ich, antworte ich. Aber das gehe leider nicht. Weil ich doch gerade hier mit meiner Tochter eine Reise mache. Khaled steht vor mir, den Arm um seinen Sohn gelegt, als ich begreife, was ich da gerade gesagt habe.


Für wertvolle Hintergrundinformationen und Analyse danken wir Nedim Ademović, Valentin Inzko, Zlatiborka Popov Momčinović, Jasmin Mujatović, Mirza Smailić und Ajla Srdić.

Titelbild: Sad von serzhile (via FlickR) CC BY-ND 2.0

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