Interview: Jürgen Klute

Euroap.blog: „A Soul for Europe – Eine Seele für Europa“ – das klingt je nach persönlichem Hintergrund schon beinahe religiös oder aber nach Psychologie. Was steckt hinter „A Soul for Europe“, was ist damit gemeint?

Noémi Kiss: Ja, wir glauben an etwas: an eine Zukunft der Dialoge zwischen Menschen und Kulturen. A Soul for Europe ist eine Initiative von Bürgern, Künstlern und Politikern. Und die Seele? Ein Ort empfindsamen Zusammenkommens.

Menschen, die nicht direkte Nachbarn sind, sogar verschiedene Sprachen sprechen, müssen gerade deshalb miteinander reden. Die positiven Seiten der EU erleben, das muss man heute echt betonen, und gute Kunst kann ein Mittel sein. Die Psychologie hat damit weniger zu tun, für mich steht Kultur im Mittelpunkt, die Mehrdeutigkeit und Differenz des Denkens. Darüber werden wir diskutieren. Wie verschieden wir sind, auch wie verschieden die politischen Entscheidungen sind. Soul, Seele, lélek (im Ungarischen) ist ein gutes Wort, wie auch das Herz als Symbol: Jeder Mensch, jeder Kontinent hat eine Seele – und die Seele ist sehr empfindlich. Es herrscht nicht nur Begeisterung. Es ist in der Welt heute nicht egal, auch innerhalb der EU nicht, ob du im Westen oder im Osten lebst, Nord und Süd kommen noch hinzu. Wie weit du wandern musstest, um ein besseres Leben zu haben. Wir sehen gerade die Probleme der EU, und diese sind genauso wichtig, wie es der Glaube an ein Zusammenwachsen des Kontinents gegen 1989 war. Die Länder und ihre Geschichten sind sehr unterschiedlich, und eine Zentralisierung der EU kann nicht das Mittel sein.

Ich als Autorin habe mich immer für die Peripherie interessiert. Dort zu sein war für mich immer spannender als im Zentrum. Empfindsamkeit hat sich bei mir mit vielen Reisen eingestellt. Zuschauen, zuhören, migrieren. In der Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Serbien, im Kaukasus und in den Karpaten. Überall gibt es Abseits, Öde, Orte ohne Menschen oder Menschen ohne Ort, auch im Westen. Überall gibt es Menschen, die die Heimat verlassen. Das hat mich immer interessiert. Ich hoffe, ich kann auf der Tagung meine gesammelten Beobachtungen teilen.

Euroap.blog: Die Europäische Union befindet sich seit rund 10 Jahren in einer Krise: Aus der rechten politischen Ecke kommende Populisten und EU-Gegner erfreuen sich in vielen EU-Mitgliedsländern eines immer stärkeren Zulaufs bei Wahlen. Großbritannien steht kurz vor dem Austritt aus der EU. Inwiefern kann und soll eine europäische Seele die Ursachen dieser Krise adressieren?

Noémi Kiss: Jeder Mensch hat einen Glauben an die Zukunft, auch Politiker tragen dafür Verantwortung. Wenn du Arbeiter bist, möchtest du gut bezahlt werden. Deshalb entsteht heftige Migration innerhalb der EU, denn westliche Länder brauchen Billigarbeiter. Die Länder, aus denen die Menschen verschwinden, geraten plötzlich in Gedankenkrisen. Die Länder, in denen plötzlich Migranten präsent sind, können genauso empfindlich reagieren. Politik wird häufig nach Wirtschaftsinteressen gemacht, und Kultur spielt leider nur selten eine Rolle. Das muss man neu denken. Ich weiß nur, dass in meinem Land Ungarn die westliche Wirtschaft sehr präsent ist, was gute und schlechte Seiten hat. Wir waren sehr euphorisch beim Mauerfall und nach der Wende, in den letzten 30 Jahren hat sich die Gesellschaft aber rasch geändert. Als Konsequenz des Neoliberalismus sind heute besonders die Frauen verarmt; sie betrifft die Krise unmittelbar, doch wir haben kaum Politikerinnen im Parlament. Ich sehe auch positive Dinge, so hat sich beispielsweise die Zivilgesellschaft sehr verstärkt. Alte Parteien verschwinden, neue kommen hinzu. Heute haben die Politiker der Wende den Kontakt zur Gesellschaft völlig verloren, und die Opposition (Linke, Liberale) hat noch weniger Kontakt zu den Menschen. Es ist eine Trauerkrise, kein Demokratiedefizit. Darüber müssen wir nachdenken und diskutieren, warum Politiker ihre Kontakte zu Gesellschaft und Kultur verloren haben. Und welche Rolle internationale Kunst heute spielt.

Euroap.blog: Am 12. und 13. April findet in Berlin eine internationale Konferenz unter dem Thema „A Soul for Europe“ statt. Welche Themen stehen dort auf dem Programm?

Noémi Kiss: Wir haben bald Europawahl, es gibt aber sehr wenige internationale Tagungen mit wirklichen Diskussionen über frische Konzepte für die EU. Obwohl wir sehr viele internationale Festivals haben und Kunst heute sehr international geworden ist, bleiben Diskussionen im Hintergrund, laufen hinter verschlossenen Türen, finden oft außerhalb der Medien statt. Wir haben europäische Kulturhauptstädte, aber viele Parteien (links wie rechts) adressieren die Gesellschaft nur im Inland, machen herkömmliche und polarisierende Kampagnen bei der Europawahl. Das ist sehr langweilig, und die Menschen meiden diese Wahl, was sehr bedauerlich ist. Wir machen hier klare Lobby für mehr Kultur und Toleranz, für Verschiedenheit der Interessen. Berlin ist momentan ein Ort, wo wir offen diskutieren können, und ich erwarte heftige Gespräche.

Die Themen sind im Programm klar formuliert. Politisch aktive Künstler, Festivalleiter und ausgewählte Politiker sprechen miteinander. Ich hoffe, es werden auch heikle Themen auf den Tisch geworfen. Der Rahmen ist gegeben – wie wir ihn ausfüllen, kann man verfolgen. Die Teilnehmer sind alle, glaube ich, überzeugt von der politischen Bedeutung der Kunst. Ost und West werden sicher Thema sein, ebenso die Krisen und die Gründe, warum und wie populistische Parteien vorankommen. Überhaupt: Hat die EU einen Dialog mit ihren Bürgern? Wie können Künstler heute Probleme der Gesellschaft ansprechen? Wie frei ist Kunst in den verschiedenen Ländern? Unterschiedliche Identitäten werden diskutiert und die Frage, was Identitätspolitik in den letzten 30 Jahren gebracht hat. Wie stehen Peripherie und Zentrum zueinander? Was ist das politische Interesse in der Kunst? 

Euroap.blog: Welche Ziele verfolgt die Konferenz?

Noémi Kiss: Die A Soul for Europe Conference ist ein Ort, an dem Politiker mit Künstlern und Bürgern diskutieren können. Das Ziel ist, die Politik in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu bringen, und zwar besonders mit den Mitteln der Kultur.

Ich persönlich empfehle besonders das Programm am Freitagabend mit der Verleihung des Evens Arts Prize an die Choreographin Eszter Salamon und der anschließenden Diskussion mit Kulturschaffenden über „Europa im Dialog“.

Ebenfalls empfehlenswert sind die Workshops am Samstag, weil man dort im kleineren Kreis an spezifischen Themen arbeiten kann.

Euroap.blog: Wen will die Konferenz ansprechen und welche Formen der Beteiligung für Teilnehmende gibt es? Was erwartet die Teilnehmenden?

Noémi Kiss: Die Konferenz ist offen für alle Europainteressierten und solche, die sich engagieren möchten, aber nicht so recht wissen, wie. Vor allem in den Workshops stellen sich zahlreiche bereits bestehende Initiativen vor, so dass man deren Themen und Arbeitsweisen kennenlernen – und künftig dann unter Umständen selbst dort aktiv werden – kann.

Euroap.blog: Müssen sich Interessent*innen vorher anmelden oder kann man sich auch spontan entscheiden und vorbeischauen?

Noémi Kiss: Kurzfristig anmelden kann man sich unter https://asoulforeurope.eu/events/asfe19/. Und für eine ganz spontane Teilnahme besteht die Möglichkeit zur Registrierung vor Ort, sofern noch Platz ist. Am Samstagvormittag wird es aber auch einen Livestream der Konferenz geben.

Euroap.blog: Was passiert mit den Ergebnissen der Konferenz?

Noémi Kiss: Da ja viele Politiker bei der Konferenz anwesend sind, nehmen sie direkt Ergebnisse aus den Diskussionen mit. Diese werden im Anschluss aber auch noch einmal zusammengefasst und Berichte online bereitgestellt.

Berlin ist seit Jahren ein Ort für A Soul for Europe. Immer neue Leute wurden ins Gespräch gebracht, Leute aus allen möglichen Ländern, auch über die EU hinaus. Ich bin seit sieben Jahren auf der Tagung und habe immer interessante Konzepte mit nach Hause gebracht. Ich freue mich, dass die Konferenz diesmal in der Akademie der Künste am Brandenburger Tor stattfindet. Es ist für uns alle, die wir von weit her anreisen, eine Ehre und Auszeichnung, dort sprechen zu dürfen.

Titelbild: Lost Souls, Graffiti in Brighton (East Sussex) | Foto: Derek Σωκράτης Finch CC BY 2.0

Noémi Kiss


Noémi Kiss, 1974 in Gödöllő in der Nähe von Budapest geboren, ist Autorin, Kritikerin und Essayistin, deren Werke ins Englische, Deutsche, Polnische, Bulgarische, Rumänische und Serbische übersetzt wurden. Sie studierte Hungarologie, Komparatistik und Soziologie in Konstanz und an der Universität Miskolc in Ungarn, an der sie seit 2000 Dozentin ist und 2003 mit einer Dissertation über Paul Celan und seine Rezeption in Ungarn promovierte. Kiss veröffentlicht regelmäßig Kurzgeschichten und Essays über Fotografie und Literatur. Zuletzt erschienen in Deutschland der Roman „Dürre Engel“ (2018) und „Schäbiges Schmuckkästchen: Reisen in den Osten Europas“ (2015) im Europa Verlag. Sie ist Mitglied der Strategiegruppe der Initiative A Soul for Europe.

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