Beitrag von Jürgen Klute

Hauptgebäude der EU-Kommission im Europa-Viertel in Brüssel | Foto: J. Klute

Am 60. Jahrestags der Unterschrift unter die Verträge von Rome macht die EU einen besorgniserregenden Eindruck:

  • Brexit
  • zunehmender Nationalismus und das Erstarken rechter Parteien
  • seit 2009 in Dauerkrise, die viele Bürger und Bürgerinnen am Sinn und Nutzen der EU zweifeln lassen
  • die ungelöste Flüchtlingsfrage, die die EU immer stärker zu einer Festung macht
  • wirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb des EU-Binnenmarktes
  • exorbitante Exportüberschüsse der BRD-Wirtschaft
  • eine wirtschaftlich und politisch dominante BRD ohne die Fähigkeit, diese Rolle im Sinne einer Friedenspolitik und einer europäischen Perspektive auszufüllen
  • eigentlich sollte die EU genau diese Dominanz verhindern
  • die etwas ratlosen Debatten zur Zukunft der EU

Schaut man nur auf die Negativ-Seite der Bilanz, dann drängt sich schnell der Schluss auf, die EU sei nach 60 Jahren am Ende.

Ein Blick auf den als entscheidend geltenden Anstoß für den Aufbau der heutigen EU kann diese pessimistische Sicht korrigieren. Gemeint ist die Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950 (der vollständige Text findet sich weiter unten). Zwei Aspekte dieser Erklärung lohnen sich in Erinnerung zu rufen. Gleich zu Beginn seiner Erklärung stellt Schuman klar:

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

“Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“

Wenige Sätze später nennt Schuman Ziel und Grundlage des zu errichtenden gemeinsamen Europas:

„Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.

Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfaßt, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen.“

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

Durch die wirtschaftliche Integration sollte einerseits verhindert werden, dass europäische Staaten erneute heimlich gegeneinander aufrüsten. Und es sollte durch eine gemeinsame Wirtschaft die Grundlage eines gemeinsamen Wohlstands in Europa geschaffen werden.

Beide Begründungen für die wirtschaftliche Integration sind plausibel. Und im Blick auf die Vermeidung von Krieg zwischen den EU-Mitgliedsländern hat sich der Weg der wirtschaftlichen Integration als tragfähig erwiesen: Heute werden Interessenkonflikte zwischen den EU-Mitgliedsländern nicht mehr militärisch ausgetragen, sondern auf politischer Ebene im Rahmen demokratischer Aushandlungsprozesse in Straßburg und Brüssel. Zwar werden die oft langwierigen und schwierigen politischen Aushandlungsprozesse oft als Brüsseler Bürokratie diffamiert. Im Vergleich zu dem unermesslichen Leid der früheren Kriege in Europa ist dieser Preis ein deutliche geringerer und akzeptablerer. In diesem Sinne ist die EU ein enormer zivilisatorischer Fortschritt.

Schuman war erfahren genug, um zu erkennen, dass der Aufbau eines geeinigten Europas ein langer und komplizierter Prozess ist – und das Europa nur durch praktische Schritte aufzubauen ist und keineswegs ein „Selbstläufer“ ist.

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

Orientiert man sich an diesen Aussagen von Robert Schuman, dass ist die EU keineswegs gescheitert. Aber sie ist nach wie vor nicht „vollendet“. So richtig es war und ist, die europäische Integration auf einem wirtschaftlichen Fundament aufzubauen – im Sinne einer notwendigen Bedingung, so richtig ist es eben auch, dass notwendige Bedingungen keineswegs hinreichend sind. Im Sinne einer hinreichenden Bedingung muss die EU heute ergänzt werden um eine sozialpolitische und steuerpolitische Integration.

Die langjährige Erfahrung, dass Interessengegensätze erfolgreich politisch gelöst werden können, darf nicht durch eine EU-weite Militarisierung infrage gestellt werden. Vor allem aus einigen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländern kommenden Anforderungen dieser Art. Diese historisch überholten Vorstellungen müssen stringent und beharrlich konfrontiert werden mit dem Konzept des Ausbaus politisch-diplomatischer Konfliktlösungsmodelle. Deren Erfolg wird durch das Bestehen der EU belegt. Diesen zivilisatorischen Fortschritt müssen wir gemeinsam verteidigen gegen jede Relativierung!

Obgleich die Friedensfrage heute wieder – anders als noch vor einigen Jahren – hochaktuell ist, gibt es heute weitere Themen, für deren Lösung die EU unabdingbar ist. Nämlich die Klimafrage und die mit ihr verbundenen Umweltfragen. Diese Fragen lassen sich nicht auf der Ebene von Nationalstaaten lösen – schon gar nicht auf der Ebene der kleinen EU-Mitgliedsländer.

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

Ein weiterer großer Themenkomplex, der sich auf der Ebene von Mitgliedsländern nicht mehr politisch steuern und regulieren lässt, ist die digitalisierte Wirtschaft.

In diesem Punkt dürfte auch die eigentliche Herausforderung der EU im Blick auf ihre zukünftige Gestaltung liegen. Es ist eine Herausforderung, die weit über die eher rückwärts gewandte Debatte einer EU mehrerer Geschwindigkeiten hinausgeht.

Debora MacKenzie in einem umfassenden Artikel im New Scientist vom 3. September 2014 unter dem Titel „End of nations: Is there an alternative to countries?“ nach der Zukunft der Nationalstaaten gefragt. Im Mittelpunkt ihrer Ausführung steht die Entstehung der heutigen Form der Nationalstaaten. D. MacKenzie legt in ihrem Artikel dar, dass die heutigen Nationalstaaten mit ihrer starren und hierarchischen Struktur eine Antwort auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft sind. Ihre Starrheit, Hierarchie und Ausgrenzungsmechanismen spiegeln die Struktur der klassischen Industrieunternehmen wider.

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

Die heute im Entstehen begriffene digitale Form der Wirtschaft ist allerdings nicht mehr starr und hierarchisch organisiert, sondern hochflexibel und als Netzwerk. Folglich leitet sich aus den Beobachtungen und Reflexionen von Debora MacKenzie die Frage ab, welche Konsequenzen die veränderte Form und Struktur digitaler Wirtschaft für den Aufbau staatlicher Strukturen und Formen hat.

In welche Richtung es gehen könnte, hat der Schweizer Ökonomen Bruno S. Frey am 17. Oktober 2016 in einem Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung skizziert: „Zukunft Europas: Es gibt eine Alternative zur EU. Der Einigungsprozess der EU wird häufig für «alternativlos» erklärt, aus Angst vor einem Rückfall in den Nationalismus.“ Eine Alternative zur bestehenden Form der EU könnte nach Frey in problemorientierten politischen Körperschaften liegen, die passgenauere Regulierungen dort vornehmen, wo sie nötig und sinnvoll sind.

Ausgereift sind solche Visionen bei weitem nicht. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass die EU sich in einem tiefen Wandlungsprozess befindet, der über die traditionelle Frage der Integration weit hinausgeht.

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

Dass rechte Parteien, Populisten und Nationalisten auf diese Herausforderungen keine Antworten haben – sie nehmen diese Herausforderungen nicht einmal wahr und begreifen sie daher auch nicht – ist offenbar. Deshalb werden diese Gruppen über kurz oder lang wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.

Die gegenwärtigen Probleme der EU lassen sich auch als Ausdruck der gesellschaftlichen Umbrüche infolge der Digitalisierung der Wirtschaft verstehen. Sie als Scheitern der EU zu verstehen wäre eine analytische Verkürzung, die schlicht die Perspektive auf die Weiterentwicklung politischer statt militärischer Konfliktlösungen, auf demokratische, sozial gerechte und ökologisch sinnvolle Antworten auf diese Herausforderungen verstellt.

 


 

Skulptur von Susanne Boerner | Foto: J. Klute

Zum Text des Vertrags von Rom (EWG) | deutschsprachige Version

 

 

 

 

 


 

Der Startpunkt der EU – Vollständiger Wortlaut der Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950

Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.

Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerläßlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt.

Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung : Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, daß der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muß in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen.

Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten.

Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.

Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfaßt, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen.

Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerläßlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren.

Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist.

Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen.

Die der gemeinsamen Hohen Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen: die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien.

Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar : die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten.

Im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher Profite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die Ausdehnung der Produktion gewährleisten.

Die Grundsätze und wesentlichen Vertragspunkte, die hiermit umrissen sind, sollen Gegenstand eines Vertrages werden, der von den Staaten unterzeichnet und durch die Parlamente ratifiziert wird. Die Verhandlungen, die zur Ausarbeitung der Ausführungsbestimmungen unerläßlich sind, werden mit Hilfe eines Schiedsrichters geführt werden, der durch ein gemeinsames Abkommen ernannt wird. Dieser Schiedsrichter wird darüber zu wachen haben, daß die Abkommen den Grundsätzen entsprechen, und hat im Falle eines unausgleichbaren Gegensatzes die endgültige Lösung zu bestimmen, die dann angenommen werden wird.

Die gemeinsame Hohe Behörde, die mit der Funktion der ganzen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Abkommen wird von den Regierungen ein Präsident gewählt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschland und den anderen Teilnehmerländern bindend sind. Geeignete Vorkehrungen werden Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidungen der Hohen Behörde gewährleisten.

Ein Vertreter der Vereinten Nationen bei dieser Behörde wird damit beauftragt, zweimal jährlich einen öffentlichen Bericht an die Organisation der Vereinten Nationen zu erstatten, der über die Tätigkeit des neuen Organismus, besonders was die Wahrung seiner friedlichen Ziele betrifft, Rechenschaft gibt.

Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums an den Betrieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde die Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, so lange diese bestehen.

(Quelle: https://europa.eu/european-union/about-eu/symbols/europe-day/schuman-declaration_de | englische Version: http://www.robert-schuman.eu/en/doc/questions-d-europe/qe-204-en.pdf | französische Version: https://europa.eu/european-union/about-eu/symbols/europe-day/schuman-declaration_fr)

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