Lula angeklagt und verurteilt: „Die Überzeugung steht vor der Verurteilung“.

Neun Jahre und sechs Monate Haft – so lautet das Urteil nach einem politisch motivierten Prozess gegen Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der am letzten Donnerstag vom Gericht der Korruption für schuldig befunden wurde. Zusätzlich sieht das Verdikt eine Geldstrafe von R$ 670.000,00 (670.000 Real = rund 183.000 Euro) und – was sicher am ganzen Prozess der wichtigste Teil ist – ein siebenjähriges Politikverbot für Lula vor. Die Verurteilung geschah in der ersten Instanz durch den umstrittenen Bundesrichter Sérgio Moro, Intimfeind Lulas und der PT (Partido dos Trabaalhadores = Partei der Arbeiter).

Bis zu einer Verurteilung in der zweiten Instanz kann Lula für die Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018 kandidieren. In allen Wahlumfragen liegt – trotz aller Hetzkampagnen – Lula mit über 30% der Wählerstimmen an der Spitze. Somit kündigt sich die Möglichkeit der Rückkehr der PT an die Regierung und die Umkehrung der eingeleiteren neoliberalen „Reformen“ und des Abbaus von Bügerrechten an – zur Verzweiflung der durch die Absetzung Dilma Rousseffs, der Nachfolgerin Lulas als Präsidentin Brasiliens von 2011 bis 2016, an die Regierung gelangten Kräfte, .

Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind für Oktober 2018 vorgesehen. Im Juli 2018 werden die Kandidaturen offiziell registriert. Falls das Urteil gegenLula in dieser zweiten Instanz bestätigt würde, könnte er nicht kandidatieren. Die Prozesse in der zweiten Instanz dauern jedoch in der Regel zwischen einem und eineinhalb Jahren. So begann bereits die Kampagne in der Putschpresse – mit Rede Globo an erster Stelle, von den drei für diesen Prozess zuständigen Bundesrichtern eine Verurteilung noch vor diesem Termin zu fordern.

Die brasilianische Justiz entdeckt die Methoden des „Hexenhammer“

„Heute sind wir konfrontiert mit der Rückkehr einer mittelalterlichen Strafverfolgung, wie sie in dem Buch „Der Hexenhammer“ beschrieben wird“. Der Senator Roberto Requião, ehemaliger Gouverneur des Bundesstaates Paraná, der kurioser Weise (immer noch) der PMDP (Partido do Movimento Democrático Brasileiro = Partei der brasilianischen demokratischen Bewegung), der Partei Michel Temers angehört, verglich die von der Staatsanwaltschaft und der Bundespolizei praktizierten Inhaftierungen mit den Anweisungen des im Jahre 1487 in Deutschland veröffentlichten Buch „Der Hexenhammer“, welches die katholische Kirche bei der Inquisition anleitete.

Die Autoren des Hexenhammers schlagen vor, „den Beschuldigten im Gefängnis für einige Zeit oder für einige Jahre zu inhaftieren, damit er nach den im Gefängnis erlittenen Nöten die begangenen Verbrechen bekennt.“ Dieser Anleitung folgt in Brasilien die Inhaftierung einer Reihe von hochrangigen Industriebossen, die der aktiven Korruption beschuldigt und bereits zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie erhielten jetzt die Chance, durch Beschuldigung der von der Staatsanwaltschaft der passiven Korruption verdächtigten Politiker – sprich Lula und andere Mitglieder der PT – grosszügige Hafterleichterung und Strafverkürzungen zu erhalten. Viele der in Haft sitzenden Unternehmer und Politiker warten darauf, dass man ihnen ein gutes Angebot in Form von Straferleichterungen für ihre Aussagen unterbreitet.

Léo Pinheiro, der seit fast zwei Jahren im Knast schmorende Chef der Baufirma OAS und Kronzeuge gegen Lula in diesem Prozess, ist bereits zu 26 Jahren Gefängnis in zweiter Instanz verurteilt. Durch seine „Zusammenarbeit mit den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft“ kann er nun auf eine Verkürzung seiner Strafe auf zweieinhalb Jahre rechnen.

Lulas im letzten Jahr verstorbene Frau Marisa hatte in dem umstrittenen Gebäude den Vertrag für den Erwerb einer Wohnung unterzeichnet, ist jedoch später von diesem Vertrag zurückgetreten. In dem Prozess, der zu Lulas Verurteilung führte, wurde Lula beschuldigt, drei andere im gleichen Gebäude befindliche Etagen (den Triplex) von der Baufirma OAS aus Bestechungsgeldern der Petrobras (= halbstaatliches brasilianisches Mineralöfunternehmen) als Geschenk erhalten zu haben.

Die 73 im Prozessverlauf gehörten Zeugen und die von der Verteidigung an den Prozess angehängten Dokumente erweisen jedoch Lulas Unschuld. Der ehemalige Präsident ist und war nie Eigentümer dieses Triplex, welcher der OAS gehört und der von dieser zu Finanztransaktionen mit der staatlichen Bank Caixa Econômica Federal verwendet wurde, was eine Übergabe der Wohnung an Dritte unmöglich macht. Die Verteidigung Lulas wird Berufung einlegen und erklärt dass „keine glaubwürdigen Beweise von Lulas Schuld während des Verfahrens erzeugt wurden“ und dass „alle Beweise für seine Unschuld eklatant ignoriert wurden“ .

Lula sagte in einer Pressekonferenz in São Paulo am Tag nach der Verurteilung: „Wir wussten, dass diejenigen, die die Lüge des Putsches gegen Dilma vorbereitet haben, nicht mit verschränkten Armen untätig bleiben würden. Solange Lula kandidatieren kann, ist der Putsch nicht perfekt. Es ist ein Versuch, mich aus dem politische Spiel heraus zu bekommen. Wer glaubt, dass er mich mit diesem Urteil aus dem Rennen bringen kann, muss wissen, dass ich weiterhin dabei bin“. Am Ende seiner Rede kündigte er an, dass er der PT für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 zur Verfügung stehe. Er werde um seine Kandidatur an drei Fronten kämpfen: vor Gericht, innerhalb der PT, um die Unterstützung der Partei und in der Gesellschaft. „Die einzige Instanz, die das Recht hat, mein politisches Ende zu dekretieren, ist das brasilianische Volk“.

„Niemand steht über dem Gesetz, aber auch niemand steht unter dem Gesetz.“ Die PT erklärt in ihrer Stellungnahme: „Die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ist ein Angriff auf die Demokratie und die Verfassung. Obwohl es sich um eine Gerichtsentscheidung in der ersten Instanz handelt, ist es eine falsche, absolut willkürliche und illegale Maßnahme, die von einem parteiischen Richter forciert wurde, der den Medien verpflichtet ist, und denjenigen, die Lulas erfolgreiche Amtsführung als Präsident nicht akzeptieren. Das Urteil basiert ausschließlich auf Denunziationen, die über Monate hinweg mit erklärten Verbrechern ausgehandelt wurden. Sie bestätigen einfach die vorgefertige Version der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ohne Vorlage von Beweisen, die eine Verurteilung nach dem brasilianischen Recht rechtfertigen.“

Lula prangerte den Abbau des staatlichen Erdölkonzerns Petrobras, die vom Parlament verabschiedete Arbeitsreform und andere von der Regierung Temer getroffenen Maßnahmen an und versprach „wieder die Armen in den Staatshaushalt zu bringen“: „Senhores des Herrenhauses, lassen Sie jemand aus der Sklavenhütte tun, wozu Sie in diesem Land nicht fähig sind“.

Nach der Absetzung Dilmas: das Chaos

Seit dem parlamentarischen Putsch, der die Präsidentin Dilma Rousseff in einem umstrittenen und langwierigen Impeachmentverfahren, das im Dezember 2015 im Abeordnetenhaus eingeleitet wurde und im August 2016 mit der Abstimmung im Senat seinen Abschluss fand, des Amtes enthoben und durch den Vizepräsidenten Michel Temer ersetzt hat, versinkt Brasilien immer mehr politisch, wirtschaftlich und moralisch im Chaos.

Das Medienspektakel der unrechtmässigen und unbegründeten Amtsenthebung der mit 52 Millionen Stimmen gewählten Präsidentin hat der Willkür und dem Rechtsbruch in allen Bereichen der Gesellschaft Tor und Tür geöffnet. Dieser hohe Preis, den Brasiliens Demokratie heute für diesen Rechtsbruch zahlt, wird inzwischen auch von vielen damaligen Befürwortern der Amtsenthebung Dilmas, eingestanden.

Es wird immer mehr deutlich, dass es bei diesem Amtsenthebungsverfahren nicht um die von der Regierung zwischen 2014 und 2015 getroffenen Verordnungen ohne die Genehmigung des Nationalkongresses handelte, die zur Eröffnung zusätzlicher Kredite geführt hatte, ein Verfahren der Umdisponierung von Haushaltsüberschüssen, das übrigens von ihren Vorgängern sowie von zahlreichen Gouverneuren praktiziert wurde und wird. Von Anfang an, d.h. seit der Wiederwahl von Dilma 2014 und ihrer Amtsannahme im Januar 2015, wurde von den rechten Oppositionsparteien mit tat- und finanzkräftiger Unterstützung der Unternehmerverbände und der Massenmedien (vor allem von Rede Globo) der Sturz der Regierung und die Vernichtung der seit 2003 mit Lula und Dilma regierenden PT und ihres Programmes der Demokratisierung der brasiliansichen Gesellschaft geplant.

Dieses Bündnis der Kräfte, die 2014 die vierte Bundeswahl gegen die PT verloren hatte, verstand seine Rolle darin, im Parlament die Regierung handlungsunfähig zu halten und eine grossangelegte Hetzkampagne gegen die PT und ihre Vertreter in Regierung und Parlament zu veranstalten. Es war und ist vor allem eine Hetzkampagne gegen Lula, die Gallionsfigur der Partei, die in zwölf Jahren Regierungszeit – in vier Wahlen in ihrem Kurs von der Bevölkerung bestätigt: zwei mal Lula und zwei mal Dilma – die politische und soziale Realität Brasiliens grundlegend verändert hat und mit Hilfe von preisgekrönten Sozialprogrammen über 20 Millionen Menschen aus der Armut geholt hat.

Der dem Papst Franziskus nahestehende Theologe Leonard Boff denunziert die durch den parlamentarischen Putsch gegen Dilma und die PT entstandene Situation mit den historischen Interessen und dem Komplott einer besonders reaktionären herrschenden Klasse in Brasilien (mit 71.000 Supermillionären), die seit der Sklavenzeit soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit schafft. Deren Machenschaften wurden durch die sozialen Reformen und vor allem durch die kulturelle, wirtschaftliche und politische Integration von Millionen Armer und Minderheiten in Stadt und Land (Frauen, Schwarze, Favelabewohner, Landlose Bauern, Indianer, Homosexuelle, etc.) bedroht. Ziel der von der derzeitigen Regierung vertretenen neoliberalen Politik sei laut Leonardo Boff die Schaffung einer Demokratie mit niedrigster Intensität für ca. 80 Millionen Mitglieder der in die Kosumgesellschaft integrierten Ober- und Mittelschicht unter einer Gesamtbevölkerung von 210 Millionen.

Neben der Hexenjagd in Presse, Rundfunk und Fernsehen war es vor allem der Justizapparat der gegen die Politiker der PT im Rahmen der Aufklärung der Korruptionsskandale eingeleiteten Ermittlungen (Lavajato – „Waschstrasse“) Partei nahm. Heute kann niemand vorhersagen, wie es weitergeht. Praktisch jeden Tag macht eine neue Enthüllung oder ein weiteres Gerücht im Rahmen der Korruptionsermittlungen der brasilianischen Justiz Schlagzeilen. Brasiliens gesamte politische Klasse steht am Pranger. Insgesamt 82 hochrangige Industriebosse und Politiker wurden bisher wegen Korruption angeklagt, darunter amtierende Minister der derzeitigen Regierung und Kongressmitglieder. Gegen den amtierenden Präsidenten Michel Temer läuft ein Strafverfahren wegen Korruption.

Der Prozess gegen den Präsidenten Temer und die Ausweitung des Korruptionssumpfes

Die Anklage gegen Temer wegen Korruption durch den obersten Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot hat in den letzten Wochen das politische Klima in Brasilien noch weiter angeheizt. Temer ist angeklagt, dieses Mal mit handfesten Beweisen wie mitgeschnittenen Telefongesprächen und der gefilmten Übergabe eines Koffers mit R$ 500.000 (knapp 137.000 Euro) an einen von ihm benannten Mittelsmann als Schmiergeld vom Chef des multinationalen Fleischkonzerns JBS. Außer weiteren Bestechungsklagen läuft gegen ihn eine Klage wegen Behinderung der Justiz. Ihm wird der Erkauf des Schweigens von Belastungszeugen vorgeworfen.

Ein Verfahren gegen einen amtierenden Präsidenten folgt allerdings einem komplizierten Ritual: Die Abgeordnetenkammer muss einer Anklageerhebung mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen. In diesem Fall würde Temer für 180 Tage von seinem Amt suspendiert. Um dies zu verhindern kauft Temer gerade die zur Ablehnung eines Strafverfahrens notwendigen Stimmen unter den Abgeordneten. Selbst die Zeitung O Globo, das Presseorgan, das den parlamentarischen Putsch 2016 anführte, berichtet, dass „die Permanenz Temers an der Macht Brasilien immer teurer zu stehen kommt. Eine Studie, die an diesem Sonntag veröffentlicht wurde, zeigt, dass der Sieg Temers in der Komission für Verfassung und Justiz bisher ganze 15 Milliarden Reais gekostet hat .“

Der Kauf von Stimme von Abgeordeten und Senatoren begann bereits bei der Schaffung einer notwendigen Mehrheit für die Verabschiedung der umstrittenen und von 85% der Bevölkerung abgelehnten Reform des Arbeitsrechtes. Die Studie, realisiert von der NGO Contas Abertas (Offene Konten), verfolgt die Zuweisung von Finanzmitteln an die Abgeordneten in den letzten Monaten: So stiegen diese Finanzierungen von R$ 5.653.033,00 (ca. 1,5 Mio. Euro) im April auf R$ 89.235.206,66 (ca. 24,4 Mio. Euro), im Mai auf R$ 2.024.484.275,93 (ca. 554 Mio. Euro). Für Juni und für Juli wird eine neue Steigerung dieser Bilanz erwartet.

Eine Gruppe von Abgeordneten und Senatoren hat jetzt, am Montag, den 17. Juli 2017, der Generalstaatsanwaltschaft eine Repräsentation gegen Temer übergeben, in der sie eine Untersuchung dieser Zuweisung an Finanzmitteln an die für Temer stimmenden Abgeordneten fordern.

Temer ist allerdings auch unter den Kräften, die ihn an die Macht gehieft haben, seines Verbleibs nicht mehr sicher. Ein Komplott gegen ihn ist im Gange, das den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Rodrogo Maia, den legalen Vertreter des regierenden Vize-Präsidenten Temer, an die Macht bringen will, um die politische Krise zu beenden und schliesslich die noch anstehenden neoliberalen Reformen und den Abbau von Bürgerrechten im vorgesehenen und durch die Krise bedrohten Timing durchzusetzen.

Das neue politische Spektrum und der Ruf nach vorgezogenen Direktwahlen

Die Ersetzung Temers durch Maia würde dem von der Verfassung vorgesehenen Verfahren von indirekten Wahlen des Präsidenten durch den Kongress folgen. Über 80% der Bevölkerung jedoch fordern vorgezogene Direktwahlen, nicht nur des Präsidenten sondern des gesamten im Korruptionssumpf verstrickten Kongresses. Für diese Lösung wäre jedoch eine Zweidrittelmehrheit eben dieses Kongresses nötig. Ein möglicher Volksentscheid braucht ebenfalls die Zustimmung des Parlaments.

Die Unterstützung der Bevölkerung für die Regierung Temer, die angetreten ist, um – ohne Mandat für ihr Regierungsprogramm – die Verfassung und die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen Brasiliens grundlegend zu verändern, liegt bei ganzen 7%.

Über die Zukunft und die politischen Entscheidungen, wie es in Brasilien weitergehen kann, ist die Bevölkerung tief gespalten: Die PT und andere Linksparteien konnten in den letzten Monaten wieder an Kraft gewinnen, nachdem sich der Schaum der Hetzkampagne gegen die PT-Regierung gesetzt hat und klar wurde, wo die tatsächlichen Interessen der Kräfte, die den Putsch organisiert haben, lagen. Wer am meisten an Unterstützung im politischen Spektrum verloren hat, sind die bürgerlichem Parteien des Zentrums, welche die derzeitige Regierung stellen und immer tiefer in den zunächst nur der PT zugeschriebenen Korruptionsskandal verwickelt sind.

Dagegen bekommen zwei Strömungen aus dem rechten Lager immer mehr Zulauf: Der letztes Jahr gewählte Bürgermeister von São Paulo, João Doria, mit seinem Programm des radikalen Abbaus des Staates und seiner Privatisierung und der rechtsradikale Abgeordnete Jair Messias Bolsonaro und seine Hass- und Hetzkampagne gegen Linke, Frauen, Schwarze, Indianer, Homosexuelle, NGOs und Sozialbewegungen und sein Ruf nach der Rückkehr einer Militärregierung.

Für den 20. Juli 2017 sind nun erneut Massendemonstrationen in ganz Brasilien geplant. Linke Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen mobilisieren mit Parolen wie „Verteidigung der Demokratie“, „Temer Raus“, „Unterstützung für Lula“ gegen die Reformen des Arbeitsrechtes und des Rentengesetzes sowie den Abbau von Bürgerrechten.


Titelfoto: Brasilianische Flagge (Rio) | J. Klute CC BY-NC-SA 4.0

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