Von Jürgen Klute

(aktualisiert am 05.11.2017)

Der Spiegel berichtet in seiner Online-Ausgabe vom 4. November 2011 unter dem Titel „Militärplaner halten Zerfall der EU für denkbar“ (der vollständige Artikel steht in der Printausgabe des Spiegels vom 04. 11. 2017) von einer bisher unter Verschluss gehaltenen Studie der  Bundeswehr. Demnach hält die Bundeswehr „ein Ende des Westens in seiner jetzigen Form in den nächsten Jahrzehnten für möglich“. Der Zeithorizont der Studie reicht bis 2040.

Der Spiegel betont, dass die Studie keine Prognosen abgibt, sondern verschiedene Szenarien durchspielt. Die Zukunft der EU könnte dann so aussehen:

“Die EU-Erweiterung ist weitgehend aufgegeben, weitere Staaten haben die Gemeinschaft verlassen. Europa hat seine globale Wettbewerbsfähigkeit verloren”, schreiben die Bundeswehrstrategen: “Die zunehmend ungeordnete, zum Teil chaotische und konfliktträchtige Welt hat das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands und Europas dramatisch verändert.”

Im fünften Szenario (“Westen gegen Osten”) frieren einige östliche EU-Staaten den Stand der europäischen Integration ein, während sich andere “dem östlichen Block angeschlossen” haben. Im vierten Szenario (“Multipolarer Wettbewerb”) ist der Extremismus auf dem Vormarsch, und es gibt EU-Partner, die “sogar gelegentlich eine spezifische Annäherung an das ‘staatskapitalistische Modell’ Russlands” zu suchen scheinen.

Eric Bonse, freiberuflicher deutschsprachiger Journalist in Brüssel kommentierte diesen Spiegel-Bericht auf seinem Blog „Lost in EUrope“ mit der Feststellung „Krisenszenario: 2040 ist heute“. In seinem Kommentar stellt Eric Bonse heraus, dass die meisten der in der Bundeswehr-Studie durchgespielten Szenarien zumindest in Ansätzen längst Realität sind.

Möglicherweise, mutmaßt Bonse daher, extrapoliert die Bundeswehrstudie „einfach jene Trends, die der Bundesregierung schon heute Sorgen macht, auf die Zukunft. Dann ließe sich die Studie als versteckte Kritik am IST-Zustand der EU lesen … aber auch am IST-ZUstand in Berlin. Denn Deutschland ist längst “im reaktiven Modus”. Kanzlerin Merkel versucht nur noch, den Status Quo im “deutschen Europa” zu retten, nach vorn denkt sie längst nicht mehr …“

Die Bundeswehrstudie ist allerdings nicht die erste Stimme, die vor einem baldigen möglichen Zerfall der EU warnt. Unter dem Titel „Historiker David Engels: ‚Wir haben keine Chance, einen Bürgerkrieg zu vermeiden‘” veröffentlichte die deutsche Ausgabe der Huffingtonpost am 02. Februar 2017 ein Interview mit dem belgischen Historiker von der Freien Universität Brüssel. David Engels vergleicht den Zustand der antiken Römischen Republik kurz vor ihrem Untergang wenige Jahre vor Christi Geburt mit dem gegenwärtigen Zustand der EU.

Engels wörtlich:

„In 20 bis 30 Jahren wird Europa ein autoritärer oder imperialer Staat geworden sein, nach einer Phase bürgerkriegsähnlicher Zustände und Verfallserscheinungen. So lassen es jedenfalls die Analogien zwischen der gegenwärtigen Krise Europas und dem Übergang der späten römischen Republik in den Staat des Augustus erwarten.“

Am Ende des Interviews präzisiert er, was er mit Bürgerkrieg meint:

„Ich glaube allerdings nicht an einen Krieg bewaffneter Bürgerlegionen, dafür ist unsere Politik zu wenig militarisiert. Ich rechne aber mit Vorstädten, die der staatlichen Kontrolle entgleiten. Mit Landstrichen, die von paramilitärischen, ethnischen oder religiösen Gruppen beherrscht werden. Mit überhand nehmender Kriminalität. Mit wirtschaftlichem Bankrott und völligem politischen Immobilismus. Die Bürger Europas werden sich dann mit Freuden dem ersten in die Arme werfen, der dem Kontinent einen funktionierenden Sozialstaat, Ruhe und Ordnung schenkt. So wie damals Kaiser Augustus.“

Wie Eric Bonse andeutet ist Berlin an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt. Jedenfalls hat die EU-Krisenpolitik von Merkel diesen drohen Zerfallsprozess ehre beschleunigt als dass sie ihm entgegengewirkt hätte.

Aber auch die gesellschaftliche Linke hat weder auf BRD-Ebene noch auf europäischer Ebene der Politik von Merkel etwas entgegenzusetzen vermocht. Was sicher auch einen Grund im Scheitern der sozialistischen Staaten 1989 hat. Seit dem hat die gesellschaftliche Linke es nicht mehr geschafft, ein gesellschaftliches Alternativkonzept zu entwicklen.

Möglicherweise ist auch schlicht die Osterweiterung der EU zu schnell und zu einseitig auf wirtschaftliche Aspekte erfolgt. Sicher hat die EU in Mittel- und Osteuropa auch eine stabilisierende Wirkung gehabt und sie hat den früheren Warschauer-Pakt-Staaten mit dem Zugang zum EU-Binnenmarkt einen gewissen Ersatz für die mit dem Untergang des Warschauer-Paktes weggebrochenen Märkte verschafft. Wirtschaft ist aber nicht alles.

Schon vor der Osterweiterung gab es eine intensive Diskussion um die Alternative Erweiterung oder Vertiefung der EU. Letztlich hat die EU sich für beide Richtungen gleichzeitig entschieden: mit der Einführung des Euro faktisch für eine Vertiefung, die dann aber nicht vollzogen wurde, weil sie mit der 2004 erfolgten Osterweiterung nicht vereinbar war.

Ob die in der Bundeswehrstudie und von David Engels skizzierten denkbaren Entwicklungen   der EU in Richtung Zerfall in den nächsten Jahren eintreten, hängt schlicht davon ab, ob es gelingt die Spannung zwischen Vertiefung und Erweiterung zu lösen, bevor der Bogen zerbricht. Rückgängig machen lässt sich beides jedenfalls nicht ohne immensen Schaden für alle Beteiligten anzurichten.

Die sich derzeit abzeichnende Jamaika-Koalition in Berlin stimmt allerdings nicht gerade hoffnungsvoll. Ulrike Herrmann hat in ihrem Kommentar „Die Liberalen haben keine Ahnung von Volkswirtschaft“ auf dem DGB-Debattenportal „Gegenblende“ noch einmal daran erinnert, welche verheerenden, zersetzenden Wirkungen die Berliner EU-Krisen-Politik für den Euro-Raum bis heute hat. Die FDP, deren Spitzenkandidat Christian Lindner auf das Finanzministerium schielt, würde mit ihrer Wirtschaftspolitik und ihrer bevorzugten „Scheinlösung“ der Staatsinsolvenz die nach wie vor bestehende EU-Krise weiter verschärfen, wie Ulrike Herrmann darlegt, und damit den hier skizzierten denkbaren Zerfallsprozess der EU nur beschleunigen.

Auf dem Spiel steht, dass die längste Friedensphase, die es seit Beginn der Neuzeit in Europa gegeben hat – zumindest zwischen den Mitgliedsländern der EU, endet. Das wäre auch die Vernichtung einer der bedeutendsten kulturellen Leistungen Europas, nämlich Interessenskonflikte zwischen den europäischen Gesellschaften nicht mehr auf Schlachtfelder auszutragen, sondern im Rahmen parlamentarischer Aushandlungsprozesse.

Titelfoto: EU Friedenstaube, Europäisches Parlament CC BY-NC-ND 2.0

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