(Europa.blog) Brüssel könnte für seine kulturell reichen Orte und Architekturen legendär sein – wenn es als Reiseziel nur bekannter wäre. Erst langsam entdecken internationale Besucher die Stadt mit all ihren abwechslungsreichen Vierteln. Dabei lag Brüssel schon immer auch kulturell im Zentrum Europas. In seiner wechselhaften Geschichte herrschten hier die Grafen von Brabant und von Burgund, die Spanier, die Franzosen, die Habsburger und die Niederländer. Sie alle haben schon vor der Staatsgründung 1830 ihre vielfältigen Spurenhinterlassen. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Brüssel – abgesehen vom Atomium – nicht die eine alles überstrahlende Sehenswürdigkeit besitzt. In diese Stadt muss man, kann man eintauchen, um ihre Facetten zu entdecken, die noch heute von hoher kultureller Dichte und bei aller Internationalität von der besonderen belgischen Lebenskultur geprägt werden. Und das alles zwischen Art Nouveau und Moderne, zwischen Barock und der größten Art-Deco-Kirche der Welt, zwischen den Bauten der EU und komplexen Stadtvierteln, grünen Parks und lebendigen Plätzen.

 

 Maison Horta | Foto: Olaf Winkler

 

Wer sich einen oder mehrere Tage Zeit nimmt, kann so auf Entdeckungsreise gehen – auf eigene Faust oder unter kundiger Führung etwa durch den Architekturjournalisten Olaf Winkler, der im Juni vier Tage lang deutschsprachige Touren durch die Stadt anbietet (15. bis 18.6., Information s.u.). Das gilt bereits für die Innenstadt, wo der städtische Königspalast, der Kunstberg mit seinen Bauten aus der Periode des Klassizismus und des 19. Jahrhunderts, die barock geprägte Grand-Place und die lebendige Modemeile Rue Dansaert dicht beieinander liegen. Umso spannender wird es, wenn sich hier die historischen Zusammenhänge erschließen: Kaum jemand außerhalb Belgiens weiß, dass Ludwig XIV 1695 fast die gesamte Innenstadt den Erdboden gleichmachen ließ, woraufhin sie schöner als zuvor auferstand. Oder dass sich mit der Senne quer durch Brüssel einst ein Fluss zog, der mitten in der prosperierenden Zeit der Industrialisierung einem Boulevard wich – just dort, wo Brüssel nun das Experiment der größten autofreien Zone Europas erprobt…

 

Hotel Ciamberlani | Foto: Olaf Winkler

 

Überhaupt das 19. Jahrhundert: Es führt den Besucher geradewegs in die umliegenden Viertel mit ihren wunderbaren historischen Bauten. Damals zählte Belgien zu den reichsten Ländern Europas, die gehobenen Schichten drängten an den Stadtrand und ließen sich konservativ oder avantgardistisch ihre neuen Häuser bauen. Letzteres hieß insbesondere: im Stil des Art Nouveau, von dem so viele Perlen überdauert haben. Tatsächlich wurde diese Variante des Jugendstils hier erfunden, durch das – übrigens keineswegs herzlich einander verbundene – ‘Triumvirat’ Victor Horta, Paul Hankar und Henry van de Velde. Während Hankar viel zu früh verstarb und van de Velde in Weimar den Vorläufer des Bauhaus gründete, blieb Horta in Brüssel. In seinem eigenen Haus, Ikone dieses neuen Stils, lässt sich heute erfahren, dass es um weit mehr ging als um verspielte Dekoration. Neue Materialien wie Eisen und Stahl und eine gänzlich neue Raumauffassung bereiteten mit den Weg für die anbrechende Moderne. Rundum lassen sich weitere Häuser des Art Nouveau bestaunen, führt der Weg hinab zu den idyllischen Teichen von Ixelles, an deren Ende in parkartiger Landschaft die Abtei La Cambre lockt. Und wo unweit davon in den 1930er Jahren das weltweit modernste Radiogebäude entstand, bis heute eine Paradebeispiel am Übergang von Art Deco und Modernismus …

 

links: Flagey-Gebäude, recht: Parvis St Gilles | Fotos: Olaf Winkler

 

Der reiche bauhistorische Schatz bestimmt die Entwicklungen Brüssels bis heute. Nicht immer hatte man im 20. Jahrhundert ein glückliches Händchen; sehenswert aber sind alle Eingriffe, auch weil sie von den unterschiedlichen Lebens- und Stadtvorstellungen der jeweiligen Zeit erzählen. So wandelte sich das einst adlige Leopoldsviertel zum EU-Quartier. Nach langer Zeit der Monofunktionlität versucht man dort nun, wieder städtisches Leben einkehren zu lassen. Unerwartete Orte aber gibt es auch dort schon lange, wie jenen beschaulichen Park, in dem jüngst das neue Museum für Europäische Geschichte die Pforten öffnete – wo aber einst tatsächlich ein Zoo mit Elefanten und Krokodilen lockte und um 1900 eine noch in Teilen erhaltene ‘Stadt des Wissens’ entstehen sollte. Oder man wendet sich nach Molenbeek – der in Verruf geratene Stadtteil war einst das industrielle Herz der Stadt. Bauliche Relikte jener Zeit insbesondere am Kanal (ja auch einen stadtzentralen Kanal gibt es in Brüssel) werden erst heute auf spannende Weise umgenutzt, zu Hotels, zum neuen MIMA Museum für Graffiti-Kunst, zu sozialen Einrichtungen, Kunstateliers. Und das alles so zentrumsnah, wie man Ähnliches kaum in einer anderen europäischen Hauptstadt findet.

 

links: Grande Place, rechts: EU-Viertel | Fotos: Olaf Winkler

 

Vieles ist dann noch nicht erwähnt – die jungen Cafés im Stadtteil St. Gilles etwa, der weitläufige Jubelpark, die zahlreichen Museen… Oder die Basilika von Koekelberg, die nach langer Baugeschichte zur siebtgrößten Kirche der Welt heranwuchs und zur größten Art-Deco-Kirche überhaupt. Wer nicht nur das Innere bestaunt, sondern zur Terrasse unterhalb der Kuppel hinaufsteigt, genießt den Blick weit über die Stadt, die sich in weiten Teilen zu Fuß erkunden lässt. Zu letzterem lässt sich vom 15. bis zum 18. Juni eine besondere Gelegenheit nutzen: Vier Tage lang bietet der Architekturjournalist Olaf Winkler deutschsprachige Führungen in die unterschiedlichsten Viertel der Stadt an, verbindet er Historisches mit Gegenwärtigem und Wissen mit gemeinsamer Erfahrung beim Durchstreifen. Die insgesamt sechs Führungen sind auch für Einzelpersonen buchbar, einzeln oder für alle vier Tage im Paket.

 


Titelfoto: EU-Viertel, Brüssel | Olaf Winkler

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